Im Projekt

Online-Begleitung für Freiwillige an Europas (Außen-)Grenzen

 

5. Anregungen für die Arbeit mit schutzsuchenden

Menschen


Diese Einheit soll dir einige Hintergrundinformationen und Hinweise für die Arbeit mit Menschen auf der Flucht, das heißt Schutz-und Asylsuchenden in prekären Lebensbedingungen, geben und dich ermutigen, dich mit dem Thema Trauma auseinanderzusetzen. Du wirst Anweisungen dieser Art auch in deinem Projekt bekommen, die oberste Priorität haben. Vielleicht findest du aber auch hier bereits einige Anregungen und Denkanstöße, die für deine Arbeit mit Menschen auf der Flucht relevant sein können. Dabei besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. .
 
 
 
 

Hintergrund

Warum sind bestimmte Handlungsleitlinien relevant?


Wenn du in diesem Kontext aktiv wirst, solltest du dir grundsätzlich der schwierigen und komplexen Lebenssituation von schutzsuchenden Menschen bewusst sein. Aufgrund politischer und struktureller Missverhältnisse befinden sie sich in einer sehr verwundbaren und meist machtlosen Lage. Viele von ihnen haben dazu psychisch belastende, gewaltvolle und traumatisierende Erfahrungen hinter sich.

  • Die Arbeit mit schutzsuchenden Menschen in derart schwierigen Lebensumständen, wie sie derzeit in den Camps, Unterbringungen und auch auf den Straßen in Europa herrschen, erfordern reflektiertes Handeln. Es ist notwendig, die Bedeutung dieser Umstände für dein Handeln zu hinterfragen und zu reflektieren.
  • Dazu hilft die Orientierung an bestimmten Anhaltspunkten, die dich und die Empfänger*innen deiner Arbeit schützen können.
  • Uns ist wichtig klarzustellen: Diese Tipps sollen keinesfalls den Anschein erregen, dass schutzsuchende Menschen verallgemeinernd als eine einheitliche Gruppe zu betrachten sind, auf die deswegen bestimmte “Regeln” zu treffen würden. Menschen auf der Flucht sind natürlich wie jede*r von uns Menschen mit komplexen Lebensgeschichten, Bedürfnissen, Wünschen und Persönlichkeiten. Ihre Situation ist extrem komplex und kann abhängig von vielen Faktoren sehr unterschiedlich sein. Noch viel weniger möchten wir Menschen auf der Flucht daher als handlungsunfähige Opfer einer bestimmten Situation darstellen - denn das passiert schon genug in den Medien oder öffentlichen Diskursen.
  • Es geht in dieser Einheit vielmehr darum, aufbauend auf dem Wissen, dass Menschen auf der Flucht sich strukturell in sehr verwundbaren Positionen befinden, denen sie teilweise schutzlos ausgeliefert sind, sich über mögliche Machtverhältnisse und Privilegien in deiner Position bewusst zu werden und sich möglichst rücksichtsvoll zu verhalten.
  • Zunächst einmal gelten in Projekten der humanitären Hilfe und Unterstützungsarbeit allgemein die Grundprinzipien von Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit (siehe dazu auch nochmal Einheit 1). Darüber hinaus haben wir aus unserer Erfahrung einige relativ allgemeingültige Handlungsleitlinien für diesen Kontext zusammengestellt.
  • Die hier aufgelisteten Leitlinien werden natürlich je nach Funktion und Projekt angepasst und reichen in keinem Fall aus. Deine Organisation wird dich höchstwahrscheinlich über bestimmte Verhaltensregeln informieren, die für das Projekt gelten und die unter den gegebenen Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen sind. Diese Regeln haben natürlich oberste Priorität. Trotzdem solltest du immer alle Regeln unabhängig voneinander kritisch prüfen und bei Unsicherheiten immer mit deinen Teammitgliedern aufkommende Fragen, Probleme oder Sorgen besprechen.
 
 

Informier dich!

Wo kann ich mich über die Bedeutungen von Fluchterfahrungen informieren?


Bevor du in dein Projekt reist, empfehlen wir dir, dich über bestimmte Formen von Trauma und traumsensiblem Umgang im Kontext von Fluchtgeschichten auseinander zu setzen.

Hier ein paar Lesetipps von uns:

 
 

Lebenssituationen und Machtverhältnisse

Auswirkung komplexer Lebenssituationen und Machtverhältnisse auf deine Arbeit

In Einheit 2 - Rassismus, Eurozentrismus, White-Saviour-Komplex und Voluntourismus findest du wichtige theoretische Hintergrundinformationen, die dir in der Reflexion deines Verhaltens und deiner privilegierten Position behilflich sein können.

  • Sei dir zwar über die schwierige Lebenssituation deiner Mitmenschen bewusst, aber reduziere sie nie auf ihre Fluchterfahrung oder ihren aktuellen Aufenthaltsstatus.
    Du arbeitest mit einer Menschengruppe die vermehrt politisch und medial stigmatisiert und auf die Begriffe “Flüchtling” oder “Migrant*in” mit all ihren (meist negativen) Zuschreibungen reduziert wird. Es handelt sich jedoch um Menschen, die wie du eigene Lebensgeschichten oder individuelle Bedürfnisse haben. Versuche, diese zu würdigen und sie nicht auf einzelne Aspekte ihrer Identität zu reduzieren.
  • Versuche stets, Natürlichkeit, Respekt und einen Umgang auf Augenhöhe gegenüber den Menschen, mit denen du arbeitest, zu wahren. Es gibt keinen Grund für Paternalismus.
    Sei dir darüber bewusst, dass du dich an einem professionellen Arbeitsplatz befindest: Geh respektvoll, freundlich und höflich mit deinen Mitmenschen um, wie du auch Menschen an anderen Arbeitsplätzen begegnen würdest.
  • Denk daran, dass du in den Camps, Schlafplätzen oder auch in den Wohnungen als Gast zu Besuch bist und verhalte dich dementsprechend.
    Beachte mögliche kulturell oder religiös bedingte Empfindungen von Höflichkeit und Anstand, die dir vielleicht neu sind. Das kann Körperkontakte, Kleidungsstil oder Gesprächsthemen betreffen. Wenn du unsicher bist, frag nach, aber bleib dabei immer respektvoll.
  • Sei dir über die Tendenzen und Gefahren von “Katastrophentourismus” bewusst, die leider immer wieder unter Freiwilligen vorkommen.
    Katastrophentourismus bedeutet, dass gezielt nach dramatischen Lebensgeschichten gesucht wird oder besonders schwierige Lebenssituationen fotografiert werden, um zu Hause oder im Internet davon berichten zu können. Diese Formen von Voyeurismus bedeuten meist eine Ausnutzung und Entwürdigung des Gegenübers. Sei dir über diese Tendenz bewusst und reflektiere stets das Maß deiner Neugierde und die Motivation dahinter. Bedenke dabei immer die Auswirkungen deiner Handlungen auf die Gefühle deiner Mitmenschen.
  • Sei dir darüber bewusst, dass du als Freiwillige*r - wenn auch unbewusst und ungewollt - fast immer in einer deutlich privilegierteren, und auch machtvollen Position in Interaktion bist.
    Dies bezieht sich zum Beispiel auf deine Mobilität und die Möglichkeit, jederzeit wieder nach Hause zu fahren, deinen Wissenszugang zu bestimmten Informationen, und höchstwahrscheinlich deine finanziellen Ressourcen. Sei dir also auch hier über mögliche Außenwirkungen und Selbstverständlichkeiten deiner Handlungen bewusst.
  • Mache keine Fotos von Menschen ohne ihr Einverständnis.
    Mehr dazu in Einheit 6 - Öffentlichkeitsarbeit
 
 

Traumasensibler Umgang

Wie kannst du dich möglichst traumasensibel verhalten?


  • Wenn eine Person ihre persönliche Geschichte mit dir teilen möchte, kannst du natürlich zuhören, wenn du möchtest und in dieser Situation deine Aufmerksamkeit und auch Kraft dafür bereitstellen kannst. Wenn das nicht zutrifft, ist es auch möglich und stattdessen empfehlenswert, dies zu sagen, anstatt die Gefühle von jemandem zu verletzen oder eine belastende Situation zu schaffen.
  • Es wird empfohlen, aus Respekt vor möglichen traumatischen Erinnerungen keine direkten Nachfragen beispielsweise zu Details der Fluchtgeschichte oder Familienangehörigen zu stellen.
  • Versuche, in deiner Arbeit stets ein Gefühl von Ruhe und Zuversicht zu vermitteln. In den Camps herrscht aufgrund der Lebenssituation meist schon ausreichend Stress. Versuche daher, in der Zusammenarbeit eine möglichst entspannte und zugewandte Atmosphäre herzustellen.
  • Ungleiche Behandlung kann unter Lebensbedingungen, die von ständigem Mangel und Enttäuschung geprägt sind, Stress und Konflikte hervorrufen. Versuche daher, all deine Angebote und Ressourcen gleich zu verteilen und gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst.
  • Wir empfehlen, keine Fragen außerhalb deiner Expertise zu beantworten (z.B. rechtliche, medizinische, psychologische) und keine Informationen weiterzugeben, bei denen du nicht sicher bist. Meistens gibt es in der Umgebung dafür zuständige Organisationen oder verantwortliche Personen, an die du Fragen weiterleiten kannst.
  • Melde Vorfälle verbaler und/oder physischer Gewalt oder auch Anzeichen von Gewalt (Wunden, auffälliges Verhalten) bei zuständigen Personen. Versuche dabei, persönliche Kommentare und Interpretationen wegzulassen.
  • Besonders bei Kindern gilt: Behalte - wenn möglich - den notwendigen körperlichen Abstand, das heißt, kuschle möglichst nicht oder wenig mit den Kindern. Durch körperliche Nähe über längere Zeiträume schaffst du immer auch Abhängigkeiten, die nach deiner Abreise Lücken hinterlassen und Schmerz verursachen können, besonders wenn Kinder von Unsicherheit und Verlust geprägt sind.
  • Versuche - aus ähnlichen Gründen - mit deinen Mitmenschen die Interaktion natürlich auf freundlicher & zugewandter, aber nicht zwingend auf freundschaftlicher Ebene zu führen, wenn du die Beziehung nicht halten kannst.
 
 
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