Praktische Arbeit
Online-Begleitung für Freiwillige an Europas (Außen-)Grenzen
6. Anregungen für die Arbeit mit Menschen in prekären Lebensumständen
Sich im Kontext von Fluchtmigration und Grenzpolitiken in Unterstützungsprojekten zu engagieren heißt auch, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die gezwungen sind, in prekären Lebensumständen zu leben und verschiedenen Formen der Gewalt sowie Diskrimminierung ausgesetzt sind und waren. Was bedeutet dies für deine Handlungen? In dieser Einheit geben wir dir Informationen zu wichtigen Themen wie Machtverhältnissen und traumasensiblen Handeln.
Hintergrund
Warum sind bestimmte Handlungsleitlinien relevant?
Wenn du im Kontext der EU-Grenzpolitiken im Bereich der Unterstützungsarbeit mit geflüchteten Menschen aktiv bist, solltest du dir grundsätzlich der Lebenssituation von Personen mit Flucht- und Migrationsgeschichte im Asylsystem oder ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus bewusst sein. Die Grenzpolitiken der Europäischen Union und Praktiken der jeweiligen Mitgliedstaaten führen (siehe dazu Einheit 3) u.a. dazu, dass Menschen auf der Flucht über Monate und Jahre unter unmenschlichen Lebensbedingungen in Lagern in EU-Grenzregionen aber auch den Mitgliedsstaaten der EU leben müssen, verschiedenen Formen der Gewalt durch Grenzbehörden und Diskriminierung durch Asylbehörden ausgesetzt sind und durch politische und strukturelle Missverhältnisse in ihren politischen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Viele Menschen mit Fluchterfahrung haben zudem psychisch belastende, gewaltvolle und traumatisierende Erfahrungen machen müssen. Trotz dieser Umstände ist jede einzelne Person ein handlungsfähiger Mensch und Schutzsuchende sollten bei ihrem Aufbegehren gegen diese strukturellen Missstände (was sie z.B. allein durch ihre Grenzüberquerungen tun) unterstützt werden.
- Die Arbeit mit Menschen in derart schwierigen Lebensumständen, wie sie derzeit in Camps für geflüchtete Personen oder anderen Formen der Unterbringung von Personen im Asylsystem und auch auf den Straßen in Europa herrschen, erfordern reflektiertes Handeln. Es ist notwendig, die Bedeutung dieser Umstände für betroffene Personen für dein Handeln zu hinterfragen und zu reflektieren.
- Diese Ausführungen sollen keinesfalls den Anschein erregen, dass geflüchtete Menschen verallgemeinernd als eine einheitliche Gruppe zu betrachten sind. Menschen auf der Flucht haben natürlich wie alle Menschen individuelle Lebensgeschichten, Bedürfnisse, Wünsche und Persönlichkeiten. Ihre jeweilige Lebenssituation ist abhängig von vielen Faktoren. Ihr rechtlicher Aufenthaltsstatus oder das Aufenthaltsland sind nur einige davon. Entgegen der dominanten Darstellung von Menschen auf der Flucht in den Medien oder öffentlichen Diskussionen als handlungsunfähige Opfer einer bestimmten Situation, geht es hier um die Arbeit mit Menschen, die selbst Entscheidungen über ihr Leben treffen und deren Fluchterfahrungen nur einen Teil ihrer Identität darstellen.
- Es geht in dieser Einheit daher darum, sich aufbauend auf dem Wissen, dass sich Menschen auf der Flucht strukturell in sehr verwundbaren Positionen befinden, über mögliche Machtverhältnisse und Privilegien in der eigenen Position bewusst zu werden und sich möglichst rücksichtsvoll zu verhalten.
- Die hier aufgelisteten Leitlinien werden natürlich je nach Funktion und Projekt angepasst und reichen in keinem Fall aus. Deine Organisation wird dich höchstwahrscheinlich über bestimmte Verhaltensregeln informieren, die für die jeweilige Arbeit gelten. Diese Vorgaben sollten auf jeden Fall geachtet werden. Trotzdem solltest du sie immer unabhängig voneinander kritisch prüfen und bei Unsicherheiten mit deinen Teammitgliedern aufkommende Fragen, Probleme oder Sorgen besprechen.
Lebenssituationen und Machtverhältnisse
Individuelle Lebenssituationen und Machtverhältnisse in deiner Arbeit
In Einheit 2 - Rassismus, Eurozentrismus, White Saviourism und Voluntourismus findest du wichtige theoretische Hintergrundinformationen, die dir in der Reflexion deines Verhaltens und deiner privilegierten Position behilflich sein können.
- Sei dir zwar über die schwierige Lebenssituation deiner Mitmenschen bewusst, aber reduziere sie nie auf ihre Fluchterfahrung oder ihren aktuellen Aufenthaltsstatus.
Du arbeitest mit einer Menschengruppe, die vermehrt politisch und medial stigmatisiert und auf die Begriffe “Flüchtling” oder “Migrant*in” mit all ihren (meist negativen) Zuschreibungen reduziert wird. Es handelt sich jedoch um Menschen, die wie du eigene Lebensgeschichten und individuelle Bedürfnisse haben. Würdige diese und reduziere sie nicht auf einzelne Aspekte ihrer Identität. - Es gibt keinen Grund für Paternalismus. Das heißt: Entscheide nicht für andere Menschen, was deiner Meinung nach am besten für sie ist. Versuche stets, Respekt und einen Umgang auf Augenhöhe gegenüber den Menschen, mit denen du arbeitest, zu wahren. Sei dir darüber bewusst, dass du dich an einem professionellen Arbeitsplatz befindest: Geh respektvoll, freundlich und höflich mit deinen Mitmenschen um, wie du auch Menschen an anderen Arbeitsplätzen begegnen würdest.
- Denk daran, dass du in Camps, Schlafplätzen oder Wohnungen als Gast zu Besuch bist und verhalte dich dementsprechend.
Beachte mögliche kulturell oder religiös bedingte Empfindungen von Höflichkeit und Respekt, die dir vielleicht neu sind. Das kann Körperkontakte, Kleidungsstil oder Gesprächsthemen betreffen. Wenn du unsicher bist, frag nach und bleib dabei immer respektvoll. - Sei dir über die Tendenzen und Gefahren von “Katastrophentourismus” bewusst, die leider immer wieder unter Freiwilligen vorkommen.
Katastrophentourismus bedeutet, dass gezielt nach dramatischen Lebensgeschichten gesucht wird oder besonders schwierige Lebenssituationen fotografiert werden, um zu Hause oder im Internet davon berichten zu können. Diese Formen von Voyeurismus bedeuten meist eine Ausnutzung und Entwürdigung des Gegenübers. Sei dir über diese Tendenz bewusst und reflektiere stets das Maß deiner Neugierde und die Motivation dahinter. Bedenke dabei immer die Auswirkungen deiner Handlungen auf die Gefühle deiner Mitmenschen. - Sei dir darüber bewusst, dass du als Freiwillige*r - wenn auch unbewusst und ungewollt - fast immer in einer deutlich privilegierten, und auch machtvollen Position in Interaktion bist.
Dies bezieht sich zum Beispiel auf deine Mobilität, die von deinem Pass abhängt, und die Möglichkeit, jederzeit wieder nach Hause zu fahren, deinen Wissenszugang zu bestimmten Informationen und höchstwahrscheinlich deine finanziellen Ressourcen. Sei dir also auch hier über mögliche Außenwirkungen und Selbstverständlichkeiten deiner Handlungen bewusst. - Mache keine Fotos von Menschen ohne ihr Einverständnis.
Mehr dazu in Einheit 7 - Öffentlichkeitsarbeit
Traumasensibler Umgang
Wie kannst du dich möglichst traumasensibel verhalten?
- Wenn eine Person ihre persönliche Geschichte mit potenziell traumatisierenden Erfahrungen mit dir teilen möchte, kannst du natürlich zuhören, wenn du möchtest und in dieser Situation deine Aufmerksamkeit und auch Kraft dafür bereitstellen kannst. Wenn das nicht zutrifft, ist es auch möglich und stattdessen empfehlenswert, dies zu sagen, anstatt die Gefühle von jemandem zu verletzen oder eine belastende Situation zu schaffen.
- Es wird empfohlen, aus Respekt vor möglichen traumatischen Erinnerungen keine direkten Nachfragen beispielsweise zu Details der Fluchtgeschichte zu stellen.
- Aufgrund der Lebenssituation herrscht meist schon ausreichend Stress. Daher kann es hilfreich sein, in der Zusammenarbeit eine möglichst ruhige Atmosphäre herzustellen.
- Ungleiche Behandlung kann unter Lebensbedingungen, die von ständigem Mangel und Enttäuschung geprägt sind, Stress und Konflikte hervorrufen. Versuche daher, all deine Angebote und Ressourcen gleich zu verteilen und gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst.
- Wir empfehlen, keine Fragen außerhalb deiner Expertise zu beantworten (z.B. rechtliche, medizinische, psychologische) und keine Informationen weiterzugeben, bei denen du nicht sicher bist. Meistens gibt es in der Umgebung dafür zuständige Organisationen oder verantwortliche Personen, auf die du verweisen und an die du Fragen weiterleiten kannst.
- Melde Vorfälle verbaler und/oder physischer Gewalt oder auch Anzeichen von Gewalt (Wunden, auffälliges Verhalten) bei zuständigen Personen. Versuche dabei, persönliche Kommentare und Interpretationen wegzulassen.
- Besonders bei Kindern gilt: Behalte - wenn möglich - den notwendigen körperlichen Abstand, das heißt, kuschle möglichst nicht oder wenig mit Kindern. Durch körperliche Nähe über längere Zeiträume schaffst du immer auch Abhängigkeiten, die nach deiner Abreise Lücken hinterlassen und Schmerz verursachen können, besonders wenn Kinder von Unsicherheit und Verlust geprägt sind.
- Versuche - aus ähnlichen Gründen - mit deinen Mitmenschen die Interaktion natürlich auf freundlicher und zugewandter, aber nicht zwingend auf freundschaftlicher Ebene zu führen, wenn du die Beziehung nicht halten kannst oder möchtest.
Informier dich!
Wo kann ich mich über die Bedeutungen von Fluchterfahrungen informieren?
Bevor du in dein Projekt tätig wirst, empfehlen wir dir, dich mit bestimmten Formen von Trauma und traumasensiblem Umgang im Kontext von Fluchtgeschichten auseinander zu setzen.
Hier ein paar Lesetipps von uns:
- Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (2018): Praxisleitfaden (DE)
- Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V.: refuKey-Datenbank (DE)
- Dima Zito & Ernest Martin (2016): Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen. Ein Leitfaden für Fachkräfte und Ehrenamtliche (Beltz Verlag) (DE)
- Trauma Hilfe Zentrum Nürnberg (2017): Selbsthilfebuch für traumatisierte Geflüchtete (verschiedene Sprachen) - mit Begleitbuch für ehrenamtlich und hauptamtliche Helfer*innen: "Traumatisierte Flüchtlinge begleiten" (DE)
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