Hintergrundwissen

Online-Begleitung für Freiwillige an Europas (Außen-)Grenzen

 

1. Freiwilligenarbeit im Kontext europäischer Grenzpolitiken

 

Hier möchten wir dir helfen, ein Projekt im Bereich der Unterstützung von Schutzsuchenden zu finden, das zu dir passt und bei dem du sinnvoll und nachhaltig mitarbeiten kannst. Außerdem soll in dieser Einheit ein kritischer Blick auf humanitäre Hilfe geworfen werden und eine Reflexion über die Chancen und auch die Grenzen von humanitären Hilfsprojekten sowie der eigenen Unterstützungsarbeit angeregt werden.
 
 

Nachhaltige Freiwilligenarbeit

Wir finden es super, dass du dich dazu entschlossen hast, mehr über die Möglichkeit der Freiwilligenarbeit im Bereich der Unterstützung von Schutzsuchenden zu erfahren. Angebote für Freiwilligenarbeit existieren in großer Vielzahl. Unserer Ansicht nach ist es jedoch ungemein wichtig, dass du dich für ein Projekt oder eine Unterstützungsarbeit entscheidest, bei dem oder der du möglichst entsprechend den Zielsetzungen des Projekts mitwirken und dabei von deinen Fähigkeiten Gebrauch machen kannst. Daher solltest du dich vorab mit der Frage auseinandersetzen, wie du deine Freiwilligenarbeit so nachhaltig wie möglich gestalten kannst. Um der Antwort auf diese Frage ein Stück näher zu kommen und damit gleichzeitig das passende Projekt für dich zu finden, stell dir vorab gerne die folgenden Fragen oder sprich mit anderen Menschen darüber:

Persönliches Erfahrungswissen & Fähigkeiten

Was sind deine Stärken? Hast du besondere Fähigkeiten, die in Projekten der Freiwilligenarbeit hilfreich sein könnten?
Bedeutung für dich und das Projekt:

  • Du ersparst dir etwaige Über- oder Unterforderung in der Projektarbeit, was wiederum deine langfristigen Kapazitäten stark beeinflussen kann.
  • Du gibst deinem Team die Möglichkeit, dich möglichst passend einzusetzen und dein Erfahrungswissen und deine mitgebrachten Fähigkeiten für das übergeordnete Ziel der Unterstützung von Menschen einzubringen.

Überlege, welche deiner Fähigkeiten oder Kenntnisse du gut in die Unterstützungsarbeit einbringen könntest und welche der Projekte oder Tätigkeiten dazu passen würden. Wenn dir nichts einfällt, ist das auch kein Problem. Es gibt auch Aufgaben und Organisationen, bei denen keine Vorkenntnisse notwendig sind.
Dauer des Aufenthalts / deiner Arbeit

Wie viel Zeit kannst du für deine Freiwilligenarbeit investieren?

Bedeutung für dich und das Projekt:

  • Da manche Projekte eine Mindestteilnahmedauer vorschreiben oder empfehlen, kannst du hierdurch bereits solche Projekte herausfiltern, die für dich zeitlich nicht in Frage kommen.
  • Je nach Projekt ist die Dauer deiner Freiwilligenarbeit sehr relevant für bestimmte Projekte und Vorhaben. Nimm dir lieber nicht allzu viel vor, sondern überleg dir mit deinem Team, was in der Zeit deiner Mitarbeit sinnvolle Aufgaben sein könnten. Da es meist um die direkte Arbeit mit Menschen geht, hab auch vor Augen, dass die Dauer der Mitarbeit sich auf Beziehungen auswirkt, woraus Verantwortungen entstehen.

Informiere dich in dieser Hinsicht genau über die empfohlene Dauer für ein Projekt und die entsprechende Begründung. Jede*r Freiwillige bedeutet für die Koordination Organisationsaufwand und Einarbeitungszeit, sodass du mit der Zeit natürlich mehr machen kannst. Die Bestimmung der Dauer der Mitarbeit liegt natürlich im Ermessen der Projektleitung und kann je nach Projektphase und Saison abweichen. Allerdings gilt grundsätzlich: Je mehr Zeit du für deinen Freiwilligenarbeit einplanen kannst, desto mehr Hilfe und Unterstützung bedeutet deine Mitarbeit für das Projekt. Bei sehr kurzen Aufenthalten an anderen Orten stehen die auf deiner Seite entstehenden Reisekosten und der auf der Seite des Projekts stehende Organisationsaufwand in keinem Verhältnis zum effektiven Mehrwert. Teilweise ist es daher nicht sinnvoll oder gar nicht möglich, für wenige Wochen oder Monate in einem Projekt zu arbeiten. In diesem Fall könntest du dir stattdessen überlegen, potentiell investiertes Geld an eine Organisation zu spenden oder den Aufenthalt für einen anderen Zeitpunkt zu planen.
Emotionale Reife und Belastbarkeit

Wie schätzt du deine eigene mentale und körperliche Belastbarkeit ein?
Bedeutung für dich und das Projekt:

  • Durch eine ehrliche Auseinandersetzung und Reflexion mit deiner Belastbarkeit vermeidest du, dass dich die Arbeit im Projekt auf Dauer überfordert und negativ auf deine Gesundheit auswirkt. Dabei gilt: Deine persönlichen Grenzen sind wegweisend und legitim!
  • Hauptsächlich geht es natürlich um deine Gesundheit. Weiterhin ist die Auseinandersetzung mit deinen persönlichen Grenzen aber auch wichtig, weil sie dem Projekt und deinem Team dienen kann. Im besten Fall werden von allen die eigenen Grenzen deutlich kommuniziert, um keinen Stress auszulösen. Denke daran, dass dein psychisches und physisches Wohlbefinden auch im Interesse aller Beteiligten liegt, denn es hat keinen Sinn, andere Menschen zu unterstützen, wenn es sich auf dich negativ auswirkt.

Informiere dich in dieser Hinsicht vorab z.B. durch Erfahrungsberichte von anderen Freiwilligen mit der Situation und möglichen Stressfaktoren der Arbeit und versuche anschließend, zu evaluieren, wie du hierauf außerhalb deines gewohnten Umfelds reagieren würdest (mehr dazu auch in Themenblock 2 und 7). Insbesondere die Arbeit in der Hilfs- und Unterstützungsarbeit mit besonders schutzbedürftigen Menschen in Krisensituationen kann für Freiwillige sehr belastend sein. Zudem erfordert die Projektarbeit meist ein hohes Maß an Eigenständigkeit und einen hohen zeitlichen Arbeitsaufwand. Um die Arbeit dennoch gut zu meistern, hilft es, sich darüber vorab bereits Gedanken zu machen. Diesbezüglich kannst du auch mit Freund*innen und Familie sprechen und dir deren Einschätzungen einholen. Im Rahmen dieser Selbstreflexion können Faktoren wie dein Alter, mentale Vorbelastungen oder chronische Erkrankungen eine Rolle spielen, müssen es aber nicht.

Versuche bereits im Vorhinein, aber auch nach Beginn deines Aufenthalts, deine Energiereserven einzuschätzen. Die Erfahrungen, die du bei der Arbeit machst und die Arbeitsumstände können auf Dauer durchaus mental belastend sein. Gleichzeitig wird in der schnelllebigen Freiwilligenarbeit häufig eine stetig hohe Motivation und Energie seitens der Freiwilligen erwartet. Anderswo gültige Arbeitsbedingungen werden hier teilweise nicht immer eingehalten. Um dich selbst zu schützen, kannst du bereits vorab mit der Projektleitung absprechen, in welchem Umfang deine Mitarbeit stattfinden kann, wann Pausen, wann Urlaub erforderlich ist, wenn du dies für sinnvoll hälst. Bei Langzeitaufenthalten empfiehlt es sich - in deinem Sinne, aber auch im Sinne des Projekts - nach etwa drei Monaten die Möglichkeit der Verlängerung ggf. gemeinsam mit der Projektleitung zu evaluieren.
Eigene Erwartungen und Ziele

Welche Erwartungen hast du an das Projekt und den Einfluss deiner Arbeit? Was genau möchtest du unter dem Anspruch, andere Menschen zu unterstützen bzw. ihnen zu helfen, erreichen?
Bedeutung für dich und das Projekt:

  • Die persönlichen Wünsche und Erwartungen zu reflektieren, kann dich über die Projektarbeit hinweg motivieren und dich bei verschiedenen Fragen und Herausforderungen daran erinnern, warum du dich solidarisch mit deinen Mitmeschen zeigen willst.
  • Dein Team, das Projekt und die Menschen, mit denen du zusammen arbeitest, profitieren von einem offenen und transparenten Umgang. Sei dir allerdings bewusst, dass deine eigenen Erwartungen und Ziele nicht zwingend umgesetzt werden - die Einzelperson kann in einem System von Ungerechtigkeiten meist nur relativ wenig erreichen.

Auch wenn Freiwilligenarbeit in erster Linie dem Projekt und dessen Empfänger*innen dienen soll, ist es sinnvoll anzuerkennen, dass du als Freiwillige*r persönliche Ansprüche an die Arbeit im Projekt hast und bestimmte Vorstellungen und Ziele damit verbindest. Diese anzuerkennen und sie sich im Vorhinein, sowie während deines Aufenthalts vor Augen zu führen, kann sowohl dir persönlich als auch dem Projekt oder deinem Team an sich dienen, auch wenn diese nicht immer erfüllt werden können. Rede mit deinem Team darüber - meistens geht es vielen ähnlich.
 
 

Humanitäre Hilfe?

Viele Projekte verorten sich in der humanitären Hilfe. Was das bedeutet und vor allem, was daran zu kritisieren ist, soll in dieser Einheit thematisiert werden.

Was ist humanitäre Hilfe?

Das Selbstverständnis von humanitärer Hilfe beinhaltet Maßnahmen zum Schutz und zur Versorgung von Menschen in einer humanitären Notlage (medizinische Katastrophen, Naturkatastrophen, politische Konflikte etc.), die über eine Erstversorgung hinausgehen.
Humanitäre Hilfe wird sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Organisationen durchgeführt und finanziert. Sie kann sowohl zur akuten Linderung von Not nach Krisenfällen dienen als auch längerfristige Ziele verfolgen, beschränkt sich meist aber auf Ersteres.
Das Fundament der humanitären Hilfe sind die vier humanitären Prinzipien: Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Sie sind auf die Grundsätze der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung zurückzuführen, die auf der Basis des humanitären Völkerrechts entwickelt wurden.
“Grassroot”-Organisationen in der Humanitären Hilfe

Entstehungsgeschichte der humanitären Hilfsprojekte
Im Zuge des erhöhten Hilfebedarfs, der insbesondere seit dem Sommer 2015 durch das vermehrte Ankommen von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen entstanden ist, haben sich innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von sog. “Ad Hoc Grassroots” Organisationen gebildet, die seitdem an verschiedenen Stellen und Lagern an (Außen-)Grenzen der EU humanitäre Hilfe leisten. Dies ist insbesondere dem Umstand geschuldet, dass die jeweiligen Regierungen den erhöhten Bedarf an humanitären Hilfeleistungen nicht decken können oder wollen.

Aktuelle Funktion der Organisationen
Seit diesem “langen Sommer der Migration” nehmen die „Graswurzel-Organisationen“ neben weiteren etablierten nicht-staatlichen und staatlichen Organisationen eine bedeutende Rolle im System der humanitären Hilfe ein. Viele Organisationen sind aus dem akuten Bedarf heraus und durch zivilgesellschaftliche Intervention auf Privatspendenbasis entstanden, sodass die Organisationsstrukturen hauptsächlich rudimentär und auf kurzfristige Symptombekämpfung ausgerichtet wurden. Seit einigen Jahren bemühen sich Organisationen angesichts der sich anhaltend schlechten bzw. weiter verschlechternden Situation an den Grenzen jedoch zunehmend, ihren Fokus auf eine eher längerfristige Begleitung der schutzsuchenden Menschen auszurichten. Das heißt, dass sie nun teilweise registriert sind und ihre Strukturen verstetigt haben. Andere Organisationen haben ihre Arbeit allerdings aufgrund staatlicher Repressionen eingestellt.

Warum ist humanitäre Hilfe kritisch zu sehen?

Zwar stellt humanitäre Hilfe derzeit eine der wenigen Möglichkeiten dar, politisch legitimierte Versorgungslücken annähernd zu schließen und ein ausbleibendes oder die Situation verschärfend wirkendes Handeln staatlicher Akteur*innen zumindest teilweise aufzufangen. Außerdem zeigen einige Projekte, wie eine solidarische Unterstützung von Menschen abseits von paternalistischen Projektstrukturen möglich ist. Allerdings ist es aus unserer Sicht wichtig zu bedenken, dass zivilgesellschaftlich organisierte humanitäre Hilfe grundsätzlich keine langfristige Lösung für die enormen Schwierigkeiten von Schutzsuchenden an europäischen (Außen-)Grenzen sein kann, denn auch wenn humanitäre Hilfe kurzfristig Leid lindern kann, muss sie aus folgenden Gründen kritisch betrachtet werden:

  • Humanitäre Hilfe kann nicht neutral sein. Die bestehende Situation an Europas (Außen-)Grenzen ist keine Naturkatastrophe, sondern bewusst von der EU und den Mitgliedstaaten politisch herbeigeführt. Wenn humanitäre Hilfe, die in diesem Feld agiert, als “neutral” beschrieben wird, handelt es sich dabei um eine systematische Entpolitisierung von etwas sehr Politischem. In diesem Kontext wirken staatliche Eingriffe dann als technische Lösungen auf technische Probleme, wodurch die eigene Verantwortung der Staaten und der EU für das Herbeiführen der Situation verschleiert wird.
  • Humanitäre Hilfe ist nicht unparteilich. Da sich Hilfestrukturen in einem höchst politischen Kontext befinden, können sie entweder dazu beitragen, gegen bestehende Strukturen und die staatliche Verantwortung dafür anzugehen, oder sie stabilisieren diese. Da bei humanitärer Hilfe letzteres der Fall ist, diskriminiert sie letztendlich diejenigen, die sie als Zielgruppe ansehen. Das liegt daran, dass sie ihnen gegenüber steht und mit dafür sorgt, dass Betroffene weiter auf Hilfe angewiesen sind. Außerdem orientiert sich humanitäre Hilfe teilweise an staatlichen Unterscheidungen davon, wer als “gewollt” und wer als “ungewollt” gilt. Dadurch verstetigen diese Projekte die Illegalisierung vieler Schutzsuchende (d.h. dass Schutzsuchende als “illegal” angesehen werden, obwohl kein Mensch illegal sein kann und staatliche Grenzen zu überqueren Menschen nicht rechtlos machen sollte). Die “Helfer*innen” sind also in der Position, zu entscheiden, wer Hilfe “verdient” und wer nicht und ergreifen damit unweigerlich Partei für manche und gegen andere.
  • Bestehende Machtstrukturen werden verstärkt. Humanitäre Hilfe steht keinem Machtapparat gegenüber, sondern ist von Machtstrukturen durchzogen. Sie geht davon aus, dass es aktive Helfer*innen und passive Empfänger*innen eben jener Hilfe gibt. Emanzipation und dass Schutzsuchende für sich selbst sprechen, ist dabei nicht vorgesehen. Aufgrund dieser paternalistischen (d.h. Handlungen oder Regeln, die gegen den eigenen Willen, aber für das vermeintliche Wohl der anderen Person ausgeübt werden) und diskriminierenden Strukturen wird den Betroffenen, die auf die Opferrolle reduziert werden, die eigene Handlungsmacht genommen und die politische Subjektivität aberkannt. Machtbeziehungen und Hierarchien werden also nicht aufgelöst, sondern verstetigt. Daher kann davon gesprochen werden, dass humanitäre Hilfe auch immer Teile von Unterdrückung mit sich bringt.
  • Humanitäre Hilfe verstetigt bestehende Strukturen. Humanitäre Hilfe entlastet staatliche Akteur*innen und übernimmt Aufgaben, was zu einer Verstetigung der Situation führt, denn durch das Einspringen in staatlich nicht übernommene Aufgaben wird unsichtbar gemacht, dass der Staat oder die EU ihren Aufgaben nicht nachkommt. Dadurch kann sich der Staat aus der Verantwortung ziehen, etwas zu ändern. Die Hilfe führt also nicht zu einem progressiven Wandel. Stattdessen können Freiwillige die bestehende Ordnung, gegen die sie vermeintlich angehen, verstetigen, da sie durch ihre Arbeit (unbewusst) dazu beitragen, dass es so weitergeht, wie es ist.

Rassismus im Sektor der Humanitären Hilfe

Zusätzlich zu den oben genannten Problematiken ist der Sektor der humanitären Hilfe - wie die Gesellschaft an sich - von Rassismus durchzogen. In einem Bericht von 2021 stellt die Organisation Peace Direct in Zusammenarbeit mit Adeso, der Alliance for Peacebuilding und Women of Color Advancing Peace and Security dies dar. Trotz des Fokus des Berichtes auf Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit im Globalen Süden, können die zentralen Ergebnisse auch auf den Kontext der Unterstützungsarbeit an den (Außen-)Grenzen der EU übertragen werden:

  • Das Hilfesystem reflektiert noch immer koloniale Praktiken und Einstellungen, die oft nicht anerkannt werden. Koloniale Dynamiken, wie die Ideologie der*s "weißen Retter*in" und rassistische Wahrnehmungen werden noch immer z.B. in Spendenkampagnen und der öffentlichen Kommunikation verstärkt.
  • Wohin welches Geld fließt, wird von Akteur*innen im Globalen Norden entschieden und nicht von Menschen, denen es zugute kommen soll. Die globale Aufteilung, wer die Entscheidungsmacht hat, bleibt aus dem Kolonialismus bestehen.
  • Struktureller Rassismus ist in der Kultur und Arbeitsweise des Sektors tief verwurzelt. Das bedeutet, dass Organisationen aus dem Globalen Norden vor solchen aus dem Globalen Süden begünstigt werden. Das heißt, sie profitieren von dem strukturellen Rassismus. Fähigkeiten von Mitarbeitenden aus dem Globalen Süden werden dagegen abgewertet und sie werden häufig schlechter bezahlt.
  • Der Hilfe-Sektor nutzt bestimmte Begriffe, die diskriminierende und rassistische Vorstellungen von nicht-weißen Bevölkerungsgruppen verstärken (und die bewusst nicht wiederholt werden).
  • Die angebliche “Neutralität” ist nicht gegeben, da diese “Neutralität” häufig eine weiße Perspektive darstellt und somit die "weiße Retter*innen"-Mentalität verstärkt
  • Programme und Forschung im Hilfe-Sektor orientieren sich oft an westlichen Werten und westlichem Wissen, an die und das sich angepasst werden muss. Dies wertet anderes Wissen und Erfahrungen, insbesondere aus dem Globalen Süden, ab.
  • Intersektionale Ansätze werden häufig vernachlässigt. Das heißt, dass die Zielgruppe häufig auf ein bestimmtes Identitätsmerkmal zugeschnitten ist und mehrfach marginalisierte Menschen vernachlässigt werden (z.B. lesbische Frauen, die nur Angebote für Frauen finden, wobei ihre Homosexualität vernachlässigt wird).
Wie kann es anders gehen?

Unterstützungsarbeit von Geflüchteten ist in jedem Falle politisch und mit der praktischen Unterstützungsarbeit sollten daher auch politische Forderungen nach einer radikalen Änderung der Situation gestellt werden. Das Bewusstsein darüber, dass Freiwilligenarbeit politisch ist, ist der Ausgangspunkt dafür, die Tätigkeiten in einen größeren Kontext zu setzen, anstatt den bestehenden Kontext der brutalen europäischen Migrations- und Grenzpolitik zu verschleiern.

  • Die Organisation oder das Projekt sollte sich nicht an staatliche Kategorisierungen halten, sondern alle Menschen unabhängig von ihrem rechtlichen Status als Mitmenschen begreifen, mit denen gemeinsam gearbeitet wird. Das schließt nicht aus, dass es Angebote für bestimmte Gruppen geben kann.
  • Hab im Kopf, dass praktische Unterstützungsarbeit (wie beispielsweise Essensausgabe für wohnungslose Menschen) häufig notwendige Symptombekämpfung ist, aber dass die Ursachen für die “Symptome” (wie Wohnungslosigkeit und fehlende Nahrungsmittel) politisch sind (wie mangelnde staatliche Bereitstellung von Wohnraum und fehlende staatliche Unterstützungsstrukturen im Falle von Wohnungslosigkeit).
  • Denke daran, dass alle Menschen (mit denen du arbeitest) unabhängige, eigenständige, politische Menschen sind, denen die eigene Stimme nicht genommen werden darf. Stattdessen muss gerade dafür Platz und Raum geschaffen werden, ohne sie zu exponieren und zu gefährden.
  • Du solltest deine Arbeit nicht so verstehen, dass du dich humanistisch um Menschen kümmerst, sondern in Solidarität gemeinsam mit ihnen für ihre Sache arbeitest.
  • Zu einer solidarischen, horizontalen Arbeitsweise kann auch gehören, sich mit Geflüchteten anzufreunden. Achte jedoch darauf, dass dadurch deine Unterstützungsarbeit für Menschen, mit denen du nicht befreundet bist, nicht ausschließend und unvorhersehbar wird. Um dem Risiko der emotional geleiteten Ungerechtigkeit vorzubeugen, haben manche Organisationen bestimmte Aufgabenbereiche professionalisiert - und müssen dabei aufpassen, horizontale Strukturen nicht zu verlieren.
  • Wie oben erwähnt, gibt es immer mehr Repressionen und Kriminalisierung von Unterstützungsarbeit von schutzsuchenden Menschen. Sich davon nicht einschüchtern zu lassen und weiter zu machen ist enorm wichtig und stellt sich dadurch gegen die bestehenden Strukturen. Das heißt, dass Unterstützungsarbeit nicht durch ihre Form, also die konkreten Handlungen, sondern auch durch ihre implizite Opposition gegen das herrschende gesellschaftspolitische Klima politisch werden kann. Wenn Schutzsuchende politisch nicht gewollt sind, du sie aber dennoch praktisch unterstützt, wird deine Unterstützungsarbeit also dadurch politisch, dass du gegen den vorherrschenden politischen Willen handelst.

Quellen:

Peace direct (2021): Time to Decolonise Aid (verschiedene Sprachen) - hierin werden auch Empfehlungen ausgesprochen, was besser gemacht werden kann.

BrückenWind (2021): Warum freiwillige Unterstützungsarbeit an den Außengrenzen notwendig und zwingend politisch ist (DE, EN)

Larissa Fleischmann und Elias Steinhilper (2017): The Myth of Apolitical Volunteering for Refugees: German Welcome Culture and a New Dispositif of Helping (EN)

Rivka Saltiel (2020): Urban Arrival Infrastructures between Political and Humanitarian Support: The ‘Refugee Welcome’ Mo(ve)ment Revisited (EN)

Robin Vandevoordt (2019): Subversive Humanitarianism: Rethinking Refugee Solidarity through Grass-Roots Initiatives (EN)

Robin Vandevoordt und Gert Verschraegen (2019): Subversive Humanitarianism and Its Challenges: Notes on the Political Ambiguities of Civil Refugee Support (EN)

 

Weiterführende Links:

medico international: (2023): Decolonizing Aid (DE, EN, Indonesi) - Aufzeichnungen einer Veranstaltungsreihe

 
 
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