Freiwilliges Engagement bedeutet, dass sich Menschen aus eigenem Antrieb und ohne Gegenleistung solidarisch mit Mitmenschen gegen ungleiche oder ungerechte Verhältnisse in der Gesellschaft einsetzen. Sie ist meistens dann notwendig, wenn von politischer oder struktureller Ebene nichts bzw. nicht ausreichend gegen die Ungleichverteilung getan wird, oder wenn die Verhältnisse erst durch staatliche Gesetze oder strukturelle Rahmenbedingungen entstehen.
Wenn wir uns die derzeitige Situation für Menschen auf der Flucht an Europas (Außen-)Grenzen anschauen, sehen wir nach dieser Definition einen großen Bedarf für ein Eingreifen aus der Zivilgesellschaft. An den Grenzen herrschen in zahlreichen Lagern und Squats seit Jahren Gewalt und menschenunwürdige Zustände für Menschen, die auf einen Schutz vor Krieg und Verfolgung in Europa hoffen. Ihre Grundrechte sind dabei massiv eingeschränkt. Eine Lösung für die Situation ist dabei trotz der andauernden Dringlichkeit nicht in Sicht. Im Gegenteil: Sie wird von den EU-Mitgliedsstaaten akzeptiert, und bewusst als Abschreckung für weitere Migration eingesetzt – auch wenn dies erwiesenermaßen nicht funktioniert. Das Engagement vieler Europäer:innen bietet das Gegenteil zu dieser gewaltvollen Grenzpolitik der Staaten: Es zeugt von solidarischen Menschen, die sich gemeinsam für eine bessere und gerechtere Welt einsetzen und sich von diesem Ziel gegen alle Hindernisse auch nicht abbringen lassen.
In diesem Beitrag möchten wir die Auswirkung der Unterstützungsarbeit mit und für schutzsuchende Menschen an Europas Außengrenzen genauer betrachten: Was sind die Chancen, Verantwortungen und lauernden Gefahren der entstandenen Projektlandschaft an den Außengrenzen?
Die menschenunwürdigen Zustände an Europas Außengrenzen mit bekannten Beispielen wie den Geflüchtetencamps Moria und Kara Tepe auf Lesbos oder Lipa in Bosnien und Herzegowina sind keine temporären humanitären Notfälle oder Krisen. Die aktuelle Situation ist vielmehr eine direkte Folge der europäischen Politik, die die Verantwortung für schutzsuchende Menschen auslagern will. Koalitionen mit der Regierung Erdogans oder der paramilitärische Miliz der sogenannten “libyschen Küstenwache” sollen dafür sorgen, dass Fliehende europäischen Boden gar nicht erst erreichen. Anstatt eine legale und ungefährliche Art der Migration nach Europa und Asylantragstellung zu ermöglichen, werden Schutzsuchende, die die Grenzen erreichen, verprügelt oder inhaftiert. Push-Backs (d.h. die erzwungene Rückführung in andere Staaten ohne die Möglichkeit der Asylantragstellung) sind an der Tagesordnung. Bekommen sie die Möglichkeit zur Antragstellung, sind sie häufig dazu gezwungen, monate- bis jahrelang ohne richtige Unterkunft, finanzielle Mittel und Bildungs- und Arbeitsmarktzugang in europäischen Grenzregionen zu verweilen. Die EU und ihre Mitgliedsländer – die international als Verfechter:innen von Menschenrechten und Solidarität auftreten – zeigen also kein ernsthaftes Interesse an dem Schutz von Menschen.
Die zahlreichen Freiwilligenprojekte an den europäischen Grenzen versuchen seit Jahren, entstandene Versorgungslücken für schutzsuchende Menschen notdürftig zu schließen. Freiwillige Unterstützungsarbeit beschreibt in diesem Kontext zunächst den Versuch von einigen Wenigen, in einer Situation von Ausgrenzung und Gewalt Menschlichkeit zu beweisen. Das ist natürlich in erster Linie ausschließlich positiv zu betrachten. Es muss jedoch beachtet werden, dass solche freiwilligen Maßnahmen keine langfristigen Lösungen für diese Situation sein können.
Denn: Lebensnotwendige Unterstützungsarbeit und Erstversorgung sollte nirgendwo und nie allein auf dem freiwilligen Engagement der Zivilgesellschaft lasten müssen, und auch nicht hauptsächlich ohne Entlohnung oder unter schlechten Arbeitsbedingungen stattfinden. Die Umsetzung der meisten Freiwilligen-Projekte ist komplett an private Spenden, sowie an die Ressourcen und Kapazitäten von Einzelpersonen gekoppelt und kann niemals eine flächendeckende Versorgung oder die Aufnahme in Sozialsysteme ersetzen. Dies sollte aber immer das gemeine Ziel sein, um langfristig und nachhaltig menschenwürdige Zustände zu schaffen.
Dass NGOs an den Außengrenzen aktuell unmittelbare Hilfe leisten, ist demnach zwar weiterhin notwendig, darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Die eigentliche Verpflichtung zur Aufnahme und Schutz von in ihrer Heimat verfolgten und oder gefährdeten Personen obliegt den Staaten. Das hat nichts mit Wohltätigkeit zu tun, sondern steht jedem und jeder Geflüchteten nach der von 146 Staaten unterzeichneten Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 zu.
Und hier kommen wir zu dem folgenden Paradox von Freiwilligenarbeit, etwas vereinfacht: Sobald NGOs staatliche Pflichten übernehmen, können Staaten sich aus der Verantwortung ziehen, da die ihre Aufgaben ja bereits anderweitig erfüllt werden. Und so wird die Versorgung von Geflüchteten plötzlich zu einer “fakultativen Dienstleistung”. Das heißt, da die zivilgesellschaftliche Solidarität (immerhin) groß genug ist, um nicht gänzlich tatenlos zuzuschauen, wie Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden, sinkt der akute Handlungsdruck für Unterstützungsmaßnahmen auf politischer Ebene.
Durch den anhaltenden Dauerzustand kommt es in den letzten Jahren zu einer Verstetigung der freiwilligen Projekte und es entstehen immer langfristigere Versorgungsnetze. Das ist gleichzeitig produktiv wie problematisch. Wir verstehen Freiwilligenarbeit zwar als eine aktuell notwendige Überbrückungsmaßnahme, bis eine andere (bessere) Lösung für die Versorgung und Unterstützung der Menschen etabliert wird. Trotzdem ist wichtig: Projekte, die auf Freiwilligenarbeit und privaten Spenden beruhen, sollten nicht langfristig, sondern nur kurz- bis mittelfristig angesetzt werden, um die eigentliche Verantwortung seitens der Staaten zu markieren. Das heißt, dass die Ablösung oder Weiterführung der Maßnahmen in irgendeiner Form immer gleichzeitig anvisiert werden muss. Ein ergänzender Teil der Überbrückungsmaßnahme Freiwilligenprojekt muss es dementsprechend sein, ein strukturelles Ziel zu entwerfen und dafür politisch einzustehen.
Diesen Gedanken möchten wir noch weiter ausführen: Freiwilligenarbeit an den Außengrenzen beinhaltet immer eine Kritik an und damit auch einen Widerstand gegen die aktuelle Grenzpolitik, ohne die die Projekte gar nicht existieren müssten. Die Freiwilligenprojekte und das Engagement von Einzelnen finden zwar immer innerhalb der gewaltvollen Strukturen des Asylsystems statt, aber versuchen sich auf verschiedene Weisen dagegen zu wehren bzw. Widerstand zu leisten: Sie bieten Schutzräume für Menschen auf der Flucht, verschaffen Handlungsmöglichkeiten, bekämpfen den konstanten Zustand von Mangel zumindest ausschnitthaft und ermöglichen Zusammenkünfte und Vernetzung. Sie können so auf Selbstwirksamkeit und Autonomie von Menschen abzielen, wie sie im System nirgendwo anders vorgesehen sind. Nicht wenige Projekte schreiben sich deswegen auf die Fahne, wenigstens etwas menschliche Würde in dieser grundsätzlich unwürdigen Situation wieder herstellen zu wollen.
Das heißt, dass die Projekte in ihrer Ausgangslage also immer auch das Aufzeigen von Missständen beinhalten. Indem die NGOs staatliches Versagen oder bewusste Untätigkeit versuchen aufzufangen, klagen sie diese an. Diesen Aspekt betonen einige Projekte, in dem sie zusätzlich zu ihrer Unterstützungsarbeit im Feld beispielsweise die Zustände in den Lagern öffentlich anprangern, Petitionen starten oder Push-Backs oder gewaltvolle Übergriffe von Polizist*innen auf Geflüchtete dokumentieren und veröffentlichen. Die meisten Projekte und Freiwilligen vernachlässigen den Aspekt der politischen Systemkritik allerdings aus Zeit- und Kapazitätenmangel, weil sie natürlich Prioritäten setzen müssen.
Langfristig aufkommende Probleme mit der extrem wichtigen und solidarischen Freiwilligenlandschaft an den Außengrenzen stellen wir also an drei Punkten fest:
1) Es findet eine Verstetigung der Projekte statt, die ursprünglich für eine kurzfristige Krisenbewältigung ausgerichtet waren, da die politische Verantwortungsübernahme ausbleibt. Die entstehenden Hilfsstrukturen orientieren sich dabei entweder notgedrungen an den staatlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, oder sie arbeiten andauernd gegen bürokratische und administrative Hürden an. (Nicht selten werden die Projekte sogar kriminalisiert, aber das ist ein anderes Thema.)
2) Aus verschiedenen Gründen – meist vor allem Zeitmangel und akuter Handlungsbedarf angesichts der Situation vor Ort – kommt eine Politisierung der Arbeit und eine produktive Verbindung von Freiwilligenarbeit mit Aktivismus und politischen Forderungen zu kurz.
3) Als Folge dieser beiden Punkte kommt es langfristig zu einer unbeabsichtigten Stabilisation und Legitimation des eigentlich menschenfeindlichen Grenzregimes.
Borderline-europe. 2021. Kriminalisierung von Migration und Solidarität.
Pichl, Maximilian. 2021. Der Moria-Komplex. Medico International.
Zick, Tobias. 09.09.2021. Gefangen im Dauerprovisorium. Süddeutsche Zeitung.
ProAsyl. 2016. Nach dem Türkei-Deal: Libyen als nächster Türsteher Europas?