Hintergrundwissen

Online-Begleitung für Freiwillige an Europas (Außen-)Grenzen

 

3. Politische & soziale Situation von geflüchteten
Menschen an Europas (Außen-)Grenzen

 

Die soziale und politische Situation von Geflüchteten an Europas Außengrenzen ist ein komplexes Thema, bei dem historische, politische, soziale und rechtliche Gegebenheiten beachtet werden müssen. Rechtsprechungen und politische Praxen an den Grenzen ändern sich häufig. Daher werden wir hier einen kurzen Überblick der wichtigsten Entwicklungen und Regelungen geben. Bei weiterführendem Interesse und Fragen verweisen wir auf andere Organisation, die sich täglich und seit langer Zeit mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen und somit diese viel besser darstellen können.
 
 
 
Was ist wichtig für dich und die Arbeit in deinem Projekt?
  • Informiere dich über die asylrechtlichen und migrationspolitischen Regelungen vor Ort, um die Lebenssituation von den Menschen, mit denen du arbeitest, besser nachvollziehen zu können und ein Verständnis von dem politischen Kontext zu haben, in dem du arbeitest. Wie sehen die migrationspolitischen Regelungen in Theorie und Praxis aus? Was gibt es für aktuelle Entwicklungen vor Ort?
  • Sei dir auch über die Situation des Landes bewusst, in dem das Projekt verortet ist. Wie sieht die politische und soziale Lage des Landes (Griechenland, Italien, Serbien, etc.) aus, in dem du arbeiten möchtest?
 
 

Grundlagen Fluchtmigration

Fluchtbewegungen auf der Welt

Auf der ganzen Welt befinden sich Menschen auf der Flucht. Die Zahlen sind besonders in den letzten Jahren enorm in die Höhe gestiegen und sind so hoch wie nie zuvor in der über 70-jährigen Geschichte des UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Nur ein sehr kleiner Teil der weltweit vertriebenen Menschen flieht nach Europa, die meisten Menschen werden in Nachbarstaaten des eigenen Herkunftslandes aufgenommen.


Aktuelle Zahlen & Fakten:

  • Ende 2022 befanden sich 108,4 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht (Ende 2020 waren es 82,4 Mio.). Diese Zahl beinhaltet unter anderem 62,5 Millionen Binnenvertriebene (2020: 48 Mio.). Das sind Menschen, die innerhalb ihres Landes auf der Flucht sind.
  • 70% aller Vertriebenen weltweit werden in Nachbarländern ihrer Herkunftsstaaten aufgenommen. 52% der Geflüchteten kommen aus Syrien, der Ukraine und Afghanistan. Die Türkei, der Iran, Kolumbien, Deutschland und Pakistan sind die Staaten, die am meisten Menschen aufnehmen.

Quelle: UNHCR (2023): Refugee Data Finder

Flucht und Migration nach und in Europa

  • Die politische Situation von Geflüchteten ist in den verschiedenen Staaten der EU durchaus unterschiedlich. Die Europäische Union hat im Rahmen eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gemeinsame Standards für die Behandlung von Asylanträgen und den Umgang mit Schutzsuchenden festgelegt. Im Juni 2023 gab es eine Reform, die das bestehende System noch einmal stark verschärft hat.
  • In der Realität unterscheiden sich die politischen Umstände (Parteien an der Regierung usw.), die Umsetzung und Dauer der jeweiligen Asylverfahren sowie die Lebensbedingungen von geflüchteten Menschen in dem jeweiligen Aufnahmestaat der EU jedoch stark. Zwar erklärt die EU, dass mit der Reform gemeinsame Regelungen geschaffen werden sollen, doch ist die Reform so gehalten, dass große Unterschiede bestehen bleiben.

 

Folgen der europäischen Migrationspolitik

Die europäische Migrationspolitik setzt zunehmend auf eine Externalisierung (also Auslagerung) und Militarisierung des Grenzschutzes, wodurch die Rechte von Schutzsuchenden stark eingeschränkt und sie oft unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt werden:

  • Die menschenunwürdigen Zustände an Europas Außengrenzen mit bekannten Beispielen wie den Geflüchtetencamps Moria (heute Kara Tepe) auf Lesbos oder Lipa in Bosnien und Herzegowina sind keine temporären humanitären Notfälle oder Krisen. Im Gegenteil: Die aktuelle Situation ist politisch gewollt und eine direkte Folge der europäischen Politik.
  • Anstatt politische Mechanismen zu etablieren, die es schutzsuchenden Menschen auf legale und ungefährliche Art ermöglichen, in Europa Asyl zu beantragen, werden Schutzsuchende schon an den Grenzen verhaftet, geschlagen und zunehmend kriminalisiert. Wenn der Zugang zu Asyl gewährt wird, dauern Asylverfahren meist mehrere Monate bis Jahre und asylsuchende Menschen werden gezwungen, über lange Zeit in Camps mit teilweise unmenschlichen Lebensbedingungen zu leben.
    Moria White Helmets, eine selbstorganisierte Gruppe im Camp auf Lesbos, organisiert gegenseitige Unterstützung unter diesen schwierigen Bedingungen.
  • Hinzu kommen illegale und gewaltvolle Push-Backs (d.h. Zurückweisungen an der Grenze oder aus dem Inland, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen), Pull-Backs (wie Push-Backs, nur dass sie von den Ländern durchgeführt werden, von denen aus Menschen eine Grenze überqueren möchten) und andere diskriminierende Praktiken. Push- und Pull-Backs finden sowohl an den Außengrenzen der EU statt, als auch innerhalb der EU, wie beispielsweise in den Grenzgebieten der Balkanregion, an der Grenze zwischen Italien und Frankreich oder in Calais (zwischen Großbritannien und Frankreich).
  • Der Versuch, Menschen an der Migration und Flucht in die EU zu hindern, findet nicht mehr nur an den Europäischen Grenzen statt, sondern wird von der EU in afrikanische oder osteuropäische Staaten ausgelagert. Um die Verantwortung des Schutzes flüchtender Menschen auf andere Staaten zu übertragen und Menschen an der Flucht nach Europa zu hindern, kooperiert die EU mit Staaten wie der Türkei, Niger, Tunesien und den paramilitärischen Milizen der sogenannten “libyschen Küstenwache”. Gruppen wie Refugees in Libya und Refugees in Tunisia kämpfen gegen die herrschende Gewalt und für Gerechtigkeit, insbesondere in Nordafrikanischen Staaten.

Der Podcast Fractured setzt sich mit aktuellen Ereignissen und politischen Entscheidungen rund um Flucht und Migration in Europa auseinander (EN)
Das Border Violence Monitoring Network (EN) macht auf die Grenzgewalt und insbesondere Push-Backs aufmerksam.

 
 

Rechtliche Grundlagen und Asyl in Europa

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem und die Dublin-III-Verordnung

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) besteht im Kern aus zwei Verordnungen und mehreren Richtlinien und wurde im Juni 2023 reformiert:

  • Die Dublin-III-Verordnung (siehe unten), regelt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.
  • Die EURODAC-Verordnung wurde zum europaweiten Fingerabdruckvergleich von Asylsuchenden erstellt.
  • Die Aufnahmerichtlinie regelt die gemeinsame Standards für die Lebensbedingungen von Asylsuchenden.
  • Die Qualifikationsrichtlinie regelt, wer als "Flüchtling" oder subsidiär Schutzbedürftige gilt.
  • Die Verfahrensrichtlinie regelt die Mindeststandards der Asylverfahren.

Die wichtigsten Aspekte versuchen wir kurz zu erläutern. Dabei gehen wir jeweils sehr vereinfacht chronologisch auf verschiedene Abkommen, Verordnungen und Reformen ein, die das Europäische Asylsystem prägen.

Sehr gut zusammengefasste Informationen zu der europäischen Asylpolitik findet ihr beim Mediendienst Integration (DE)
Der europäische Flüchtlingsrat ECRE schreibt regelmäßig Artikel zu aktuellen Entwicklungen (EN)

Das Asylverfahren

Trotz europaweiter Mindeststandards für die Durchführung von Asylverfahren unterscheiden sich die Verfahren in den europäischen Staaten.

Auf diesen Seiten findest du einen Überblick über die Asylverfahren in Griechenland, Italien und Deutschland:
Die Dublin-III-Verordnung

  • Die sogenannte Dublin-III-Verordnung ist seit 2014 in Kraft. Sie regelt die Zuständigkeit der EU-Staaten für die Durchführung von Asylverfahren. Kurz gefasst besagt diese Verordnung, dass derjenige EU-Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, in dem die Geflüchteten als erstes EU-Boden betreten, beziehungsweise in dem als erstes die Fingerabdrücke der Geflüchteten aufgenommen wurden. Zwar gibt es noch andere Regelungen für die Zuständigkeiten, doch greift diese bezüglich des ersten Einreisestaates am häufigsten.
  • Das Ziel der Regelung ist, eine weitere innereuropäische Migration und mehrfache Asylantragstellung in verschiedenen EU-Staaten zu verhindern, denn nach EU-Recht kann der Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden, wenn die schutzsuchende Person aus einem sogenannten "sicheren Drittstaat" eingereist ist. Begründet wird dies damit, dass die schutzsuchende Person im "sicheren Drittstaat”" schon Schutz vor politischer Verfolgung hätte finden können. Zu den “sicheren Drittstaaten” zählen die Staaten der EU, Norwegen und die Schweiz.
  • Ausnahmen bilden lediglich Familienzusammenführungen:
    Familienzusammenführung (Family Reunification) ist eine Option für Schutzsuchende, die enge Familienangehörige in einem anderen europäischen Land haben. Darunter fallen Ehepartner*in oder minderjährige Kinder und bei unbegleiteten minderjährigen Personen Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten oder Großeltern.
Folgen:
  • Dieses Verfahren führt dazu, dass Länder an europäischen Außengrenzen wie Italien, Spanien, Griechenland oder Polen einen Großteil der Geflüchteten in Europa aufnehmen, ohne dafür adäquat vorbereitet zu sein oder angemessene Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten der EU zu erhalten. Und schutzsuchende Menschen sitzen in den Grenzregionen Europas fest, ohne sich frei im Schengen-Raum bewegen zu können bzw. leben bei einer Weiterreise in Gefahr, in die Länder der ersten Registrierung wieder abgeschoben zu werden.
  • Die Verantwortung für die Unterstützung Schutzsuchender wird somit auf wenige Staaten übertragen, auch wenn eine menschenwürdige Versorgung der Schutzsuchenden nicht gewährleistet ist.
Für mehr Informationen zum Dublin-III-Verfahren schau dir die Informationen von Informationsverbund Asyl und Migration e. V. (DE) oder Info Migrants (EN) an.
EU-Türkei-Abkommen

Was ist das EU-Türkei-Abkommen?
  • Im März 2016 ist das sogenannte EU-Türkei-Abkommen in Kraft getreten. Hintergrund des Abkommens ist, dass im Jahr 2015 und 2016 viele Menschen über die Grenzen der Türkei nach Griechenland in die EU eingereist sind. Dies wollte und will die EU unterbinden. Grob zusammengefasst besagt das Abkommen, dass die Türkei den Grenzschutz verstärkt und so Geflüchtete an der Weiterreise in die EU hindern soll. Dafür hat die EU zwischen 2016 und 2018 bis zu 6 Millionen Euro zur Verbesserung der Lebensumstände von Geflüchteten in der Türkei zur Verfügung gestellt.
  • Geflüchtete ohne Anspruch auf Asyl in Griechenland sollen von den griechischen Inseln direkt wieder in die Türkei abgeschoben werden. Bei einer ersten Prüfung der Zuständigkeit für das Asylgesuch, wird also ermittelt, ob die Türkei der Person schon ausreichend Schutz bietet. Da die Türkei nach dem EU-Türkei-Abkommen als “sicherer Drittstaat” erklärt wurde, müssen die Asylsuchenden beweisen, dass die Türkei kein sicherer Ort für sie ist. Im Gegenzug hat sich die EU verpflichtet, für jede syrische Person, die von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschoben wird, eine*n syrische*n Geflüchtete*n aus der Türkei direkt aufzunehmen.
  • Insgesamt wurden bis Ende März 2020 2.140 Menschen im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei ausgewiesen. Seit März 2020 nimmt die Türkei keine abgelehnten Asylsuchende aus Griechenland mehr auf.
Entwicklungen im Frühjahr 2020:
  • Im Februar 2020 verkündete der türkische Ministerpräsident Erdoğan, die türkische Grenze zu Griechenland für flüchtende Menschen zu öffnen. Als Grund wurden fehlende Hilfszahlungen von der EU genannt.
  • Griechenland reagierte, unterstützt von der EU, mit einer Militarisierung der Grenze und dem Aussetzen des Rechts auf Asyl für einen Monat.
  • Viele Menschen, die in diesem Zeitraum in Griechenland angekommen sind, wurden und werden auch noch immer ohne rechtsstaatlichen Schutz wieder in die Türkei ausgewiesen.
  • Auch nach 2020 sind Push-Backs noch an der Tagesordnung und für Menschen auf den griechischen Inseln haben sich die Aufnahmebedingungen weiter verschlechtert, sodass nicht mal die elementarsten Bedürfnisse gedeckt sind
Mehr Informationen zu den Entwicklungen in Griechenland im Zeitraum Februar 2020-Juni 2020 in dieser Broschüre: Stop War On Migrants (EN, GR)
Auch zu empfehlen ist die Monitor Reportage Flüchtlinge in Griechenland: Europas Rechtsbruch an der Außengrenze (DE) und der Podcast Memento Moria - Was heute an Europas Grenzen passiert (DE)

Quellen:
Balkanbrücke: Griechenland (DE)
Schwarze, T. (2017): Für Merkel funktioniert der Deal (DE)
Dimitriadi, A. (2022): Migration und Migrationspolitik in Griechenland (DE)
Der EU-Migrationspakt 2020

Die Mitgliedsstaaten der EU haben im Herbst 2020 den Entwurf eines neuen Migrations- und Asylpaket vorgelegt, der die europäische Asylpolitik reformieren sollte und nach eigenen Angaben “verbesserte und schnellere Verfahren im gesamten Asyl- und Migrationssystem” festlegen sollte. Auch wenn dieser Pakt von NGOs stark kritisiert wurde, dient er nun der letztendlich durchgesetzten GEAS-Reform als Grundlage.

Für mehr Informationen schau dir diese MONITOR-Reportage an EU-Migrationspakt: Unrecht als Gesetz (DE) oder dieses Video des Border Violence Monitoring Network Who does the EU’s Migration Pact Really Benefit? (EN)
Quellen:
Europäische Kommission (2020): Pressemitteilung (DE)
Flüchtlingsrat Baden-Württemberg (2020): Überblick zum neuen Asyl- und Migrationspaket der EU (DE)
Tagesschau (2020): Menschenverachtend oder gute Basis? (DE)
Tagesschau (2020): Was steht im EU-Migrationspakt? (DE)
Mediendienst Integration (2020): EU-Migrationspakt steht in Kritik (DE)
Die GEAS-Reform 2023

Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem wurde von der EU als bahnbrechende Einigung präsentiert. Schaut man sich die konkreten Inhalte jedoch genauer an, wird schnell klar, dass das Recht auf Asyl stark eingeschränkt wird.

Was beinhaltet die GEAS-Reform?
  • Grenzverfahren
  • Asylverfahren sollen mit verkürzten Zeiten direkt an den europäischen Außengrenzen stattfinden
    Hierbei handelt es sich jedoch um keine richtigen Asylverfahren, da es nicht um die Fluchtgründe geht, sondern um das Land, in dem sich der jeweilige Mensch zuletzt befunden hat. Es wird nur geprüft, ob er dort sicher ist.
    Während dieser Zeit gilt die asylsuchende Person als noch nicht in die EU eingereist (fiction of no entry), kann sich also nicht frei bewegen und wird inhaftiert.
    Wird ein Mensch nicht direkt an der Außengrenzen registriert und später z.B. in Deutschland kontrolliert, kann der Mechanismus des Grenzverfahren auch dort - entfernt von der Außengrenze - aktiviert und durchgeführt werden.
    Auch Kinder ab 12 und vulnerable Menschen sind von diesen Grenzverfahren nicht ausgenommen.

    Folgen: Das Recht auf Asyl, bei dem es darum geht, warum ein Mensch geflohen ist, wird stark eingeschränkt, da nicht individuell auf die Fluchtgründe, sondern auf das Land geschaut wird, in dem sich der Mensch zuletzt befunden hat. Das sind häufig Tunesien oder die Türkei, die beide als sicher eingestuft werden, auch wenn beide Länder keine sicheren Bedingungen bieten können (siehe z.B. Refugees in Tunisia). Es drohen Kettenabschiebungen, also weitere Abschiebungen z.B. aus der Türkei nach Syrien oder Afghanistan - Länder, aus denen die Menschen geflohen sind. Da Asylsuchende während der Grenzverfahren als noch nicht eingereist gelten, haben sie limitierte Rechtsmittel, um sich gegen Fehlentscheidungen zu wehren. Außerdem können in den verkürzten Zeiten häufig vulnerable Menschen nicht als solche erkannt und dementsprechend geschützt werden. Abgesehen davon ist fraglich, wie sich diese Grenzverfahren umsetzen lassen, wenn man sich das Scheitern der bisherigen Hotspots und Lager in Griechenland und Italien anschaut, das auf dem Rücken von Geflüchteten ausgetragen wird.

  • Verschärfung des Dublin-Systems
  • Anstatt einer Ablösung des Dublin-Systems wird dieses weiter verschärft.
    Es gibt weiterhin keine verpflichtende Verteilung von Geflüchteten auf die EU- Mitgliedstaaten. Stattdessen bleiben die Ersteinreisestaaten verantwortlich.
    Wenn Menschen nach ihrer ersten Registrierung z.B. in Italien nach z.B. Deutschland weiterreisen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen, wird die Frist für Deutschland, die Menschen wieder zurück nach Italien abzuschieben (sogenannte Dublin-Überstellung), auf 1 bzw. 3 Jahre verlängert.

    Folgen: Die Zunahme von Push-Packs, also Zurückschiebungen an der Grenze, kann als präventiver Grenzschutz weiter legitimiert werden, obwohl diese Praxis klar mit Menschenrechten bricht. Dadurch, dass eine Verteilung von asylsuchenden Personen auf die verschiedenen Mitgliedstaaten nicht in der Reform integriert ist, haben die Grenzstaaten keinen Anreiz, Asylverfahren auch wirklich durchzuführen. Außerdem bedeutet die Verlängerung der Abschiebefrist in den EU-Staat der ersten Registrierung, dass das Unterkommen bei Bekannten oder Kirchen- und Bürger*innenasyl (die Unterbringung von von Abschiebungen bedrohten Menschen in Kirchengemeinden oder Privatwohnungen) kaum noch möglich sein werden, denn diese Zeit ist von Ängsten und Unsicherheiten geprägt. Bereits die bisher bestehende Frist von 6 bzw. 18 Monaten ist unerträglich lang. Außerdem macht es der weitgehende Ausschluss von Sozialleistungen fast unmöglich, diese Zeit zu überbrücken.

  • “Solidaritätsmechanismus”
  • Der "Solidaritätsmechanismus" ermöglicht es EU-Staaten, die sich gegen eine Aufnahme von Geflüchteten wehren, einen finanziellen Beitrag für Abschiebungen statt für Aufnahmen zu zahlen oder Drittstaaten zu finanzieren, Migrationsbewegungen in die EU einzuschränken.

    Folgen: Staaten können sich aus ihrer Verantwortung, Menschen Schutz zu bieten, rausziehen.

  • Auslagerung der Asylverfahren in Drittstaaten
  • Asylverfahren sollen in Ländern außerhalb der EU durchgeführt werden.

    Folgen: In Drittstaaten gibt es kaum auf das europäische Asylrecht spezialisierte Anwält*innen, mit denen Asylsuchende gegen negative Bescheide klagen könnten, wodurch ihnen Rechtsschutz genommen wird, da Fehlentscheidungen nicht korrigiert werden können. Außerdem haben diese Asylzentren Einfluss auf die Staaten, in denen sie sich befinden, denn es müssten dort striktere Grenzkontrollen eingeführt werden. Das bedeutet eine Einschränkung der westafrikanischen Freizügigkeit und dadurch eine Zerstörung lokaler Ökonomien, die auf Bewegungsfreiheit aufbauen. Neue Fluchtgründe können so geschaffen und Menschenrechtsverletzungen sowie Sterben in Grenzregionen in den Globalen Süden verlagert werden. So wird die EU-Migrations- und Grenzpolitik und ihre Folgen in Regionen ausgelagert, die außerhalb der europäischen (medialen) Aufmerksamkeit liegen.

Zum nachlesen:
ECRE (2023): A possible agreement on the reform of CEAS at the council in June. What is at stake? (EN)
ECRE (2023): Editorial: Migration Pact Agreement Point by Point (EN)
Pro Asyl (2023): Die Bundesregierung und ihre Schönrednerei im Faktencheck (DE)
Übersicht der aktuellen Debatte zur Reform des EU-Asylsystems (DE)
Netzwerk Fluchtforschung (2023): Fluchtforschung gegen Mythen 8 (DE)
Taxis, Clara (2023): EU-Asylreform: Was nicht sicher ist, wird sicher genannt (DE)

Quellen:
Pichl, Maximilian (2023): Europas Werk und Deutschlands Beitrag: Wie der EU-Asylkompromiss das Recht auf Asyl aushöhlen könnte (DE)
Pro Asyl (2023): FAQ zur geplanten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) (DE)
Pro Asyl (2023): Haftlager an den Außengrenzen und Abschiebungen in Drittstaaten: Ist das die Zukunft? (DE)
Rat für Migration (2023): Besser keine Reform als diese: Warum die Bundesregierung die GEAS-Reform stoppen sollte (DE, EN)
Frontex

  • Frontex ist die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache und ist seit 2004 im Einsatz um die europäischen Mitgliedsstaaten bei ihrem Grenzschutz zu unterstützen. Die Betonung liegt hier explizit auf dem Grenzschutz und nicht dem Schutz von Menschenleben.
  • Die zunächst kleine Agentur mit Sitz in Polen, ist zu einer der größten Agenturen der EU geworden. Das Budget ist seit 2005 um 7.560% auf 5.6 Billionen Euro für die Jahre 2021-2027 gestiegen. Frontex hat eigene Mitarbeiter*innen sowie von Mitgliedsstaaten gestellte Beamt*innen.
  • Die Agentur arbeitet an den europäischen Außengrenzen, beispielsweise in Griechenland, den westlichen Balkanstaaten, Spanien und Italien. Zudem ist sie eine der Hauptkoordinatorinnen von Abschiebungen aus der EU und kooperiert als Teil der europäischen Externalisierungspolitik (Auslagerung der Verantwortung der Migrationskontrolle in Drittstaaten) mit mehr als 20 nichteuropäischen Staaten. Darunter fallen auch die Trainings der sogenannten libyschen Küstenwache, bestehend aus Milizen, die immer wieder wegen Menschenrechtsverletzungen kritisiert wird.
  • Frontex nutzt ein Narrativ über Migration und Grenzschutz, in dem Migrant*innen häufig als Gefahr dargestellt werden, was rassistische und nationalistische Sichtweisen auf Migration unterstützt und reproduziert.
  • Frontex steht zunehmend in der Kritik. Immer wieder wird über eine direkte und indirekte Beteiligung an illegalen Push-Backs und Gewaltausübungen gegenüber Migrant*innen berichtet: Frontex-Beamt*innen bezeugen Push-Backs in der Ägäis durch die griechische Küstenwache ohne einzugreifen und Frontex-Schiffe sind auch selbst an Push-Backs in der Ägäis beteiligt. Nach Berichten der zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Watch ist die EU-Agentur auch im zentralen Mittelmeerraum an Rückführungen nach Libyen beteiligt: Das Luftaufklärungsflugzeug von Frontex verweigert die Zusammenarbeit mit NGOs und kooperiert überwiegend mit der sogenannten libyschen Küstenwache, um Schutzsuchende zurück nach Libyen bringen zu lassen. Da Frontex zwar beteiligt ist, die letztendlich ausführenden Akteur*innen allerdings aus Libyen kommen, versucht Frontex, die Verantwortung dieser Pull-Backs von sich wegzuschieben.
  • Zudem werden fehlende menschenrechtliche Kontrollmöglichkeiten der Agentur kritisiert. Menschen, die Rechtsverletzungen durch Frontex erleben müssen, können die Agentur nur sehr schwierig vor Gericht bringen. Außerdem zeigen die direkte und indirekte Beteiligung an Push- und Pull-Backs, dass auch interne Kontrollmechanismen der Agentur nicht ausreichen um den Schutz der Menschenrechte zu garantieren.

Mehr Infos zu und Kritik an Frontex hier:

Quellen:
Pro Asyl (2020): Beteiligung von Frontex und deutschen Einsatzkräften an Pushbacks muss Konsequenzen haben (DE)
Pro Asyl (2020): Frontex - eine Grenzschutzagentur der Superlative? (DE)
Frontex Investigation (2021): Kooperation zwischen Frontex und der sogenannten Libyschen Küstenwache (DE)
Abolish Frontex (2021): What is Frontex? (EN)
Sea-Watch (2021): Crimes of the European Border and Coast Guard Agency Frontex in the Central Mediterranean Sea (EN)
 
 

Mittelmeerraum & Balkanregion

Der Mittelmeerraum und die Balkanregion spielen aus geographischen und politischen Gründen (s. Dublin-III-Verfahren) eine besondere Rolle für Schutz- und Asylsuchende in Europa, da sich hier die meisten von ihnen (gezwungenermaßen) aufhalten. Daher haben wir dir hier ein paar Informationen über die Besonderheiten und die Situation vor Ort zusammengestellt, auch wenn zu beachten ist, dass diese je nach konkretem Ort sehr unterschiedlich sind und einem stetigen Wandel ausgesetzt sind.

Da nicht nur diese Orte von Relevanz sind und Unterstützungsorganisationen in vielen weiteren Grenzregionen tätig sind, verlinken wir euch hier einige Artikel, die Informationen zu dem politischen Kontext der Region geben können. Diese Auswahl ist natürlich auch nur ein kleiner Ausblick:

Italien-Frankreich: Ventimiglia

Frankreich-Großbritannien: Calais

Marokko-Spanien: Ceuta, Melilla:

Belarus-Polen

Mittelmeerraum

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist das Mittelmeer derzeit die tödlichste Grenze der Welt. Laut Schätzungen der IOM kamen 2022 über 2.400 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben oder gelten als vermisst. Knapp ⅔ von ihnen sind auf der zentralen Mittelmeer-Route (über Libyen und Tunesien nach Italien und Malta) gestorben oder gelten als vermisst. Da sichere Fluchtwege fehlen, versuchen viele Menschen trotz dieser immensen Gefahr, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Eine europäische Lösung dieser staatlich geschaffenen humanitären Katastrophe ist nicht in Sicht, denn es gibt keine Rettungseinsätze durch die zuständigen europäischen Institutionen und auch kaumeine legalen Fluchtwege nach Europa. Im Gegenteil gibt es von staatlicher und europäischer Seite immer mehr Versuche, Seenotrettung z.B. durch Kriminalisierung zu blockieren.

Quellen:
IOM (2017): New Study Concludes Europe’s Mediterranean Border Remains 'World’s Deadliest' (EN)
Missing Migrants Project (2022): Missing Migrants Recorded in Mediterranean (EN)
borderline-europe - Menschenrechte ohne Grenzen e.V. (2021): RETTUNG UNERWÜNSCHT - Italiens Versuche, die Seenotrettung Geflüchteter zu kriminalisieren (DE)

Welche Akteur*innen sind in welcher Region auf dem Mittelmeer aktiv? Zivile Seenotrettungsorganisationen sind hauptsächlich im zentralen Mittelmeer tätig. Im westlichen und östlichen Mittelmeer sind vor allem staatliche Institutionen verantwortlich. Hier kann häufig jedoch nicht von Rettung die Rede sein, denn bei akuter Gefahr sind sie häufig nicht zur Stelle. Stattdessen haben sie ihren Fokus auf beim Sinken eines Bootes vor der griechischen Küste im Juni 2023 mit mehreren Hundert Toten - EN, siehe auch den Beitrag von Monitor - DE).

  • Im westlichen Mittelmeer ist vor allem die staatliche "Sociedad de Salvamento y Seguridad Marítima" aus Spanien mit der spanischen “Guardia Civil” für die Seenotrettung zuständig. Seit 2019 arbeiten diese mit der marokkanischen Küstenwache zusammen, wodurch es vermehrt Push-Backs nach Marokko oder Algerien gibt.
  • Im östlichen Mittelmeer arbeiten Einheiten der griechischen und türkischen Küstenwache und mit Frontex zusammen. Aufgrund des EU-Türkei-Abkommens führt die türkische Küstenwache nur noch Pull-Backs durch. In den ersten fünf Monaten von 2023 wurden doppelt so viele Menschen in die Türkei zurückgebracht wie in Griechenland und Zypern angekommen sind. Grund dafür ist auch, dass die griechische Küstenwache vermehrt Push-Backs durchführt, anstatt Menschen zu retten. Dabei werden auch Menschen, die bereits auf griechischen Inseln angekommen sind, durch Vertreter*innen der Behörden oder Personen mit Sturmmasken aufgegriffen und wieder auf dem Mittelmeer ausgesetzt.
  • Im zentralen Mittelmeer werden Schutzsuchende derzeit häufig von der sogenannten libyschen und tunesischen Küstenwache abgefangen und wieder nach Libyen oder Tunesien zurückgebracht, wo sie meist unter unaushaltbaren Bedingungen inhaftiert werden. Seit Jahren sind die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende in Libyen bekannt. Die Kooperation der EU mit Libyen zwingt flüchtende Menschen, in einem Land zu bleiben, in dem ihre Menschenrechte offensichtlich verletzt werden. Die Refugees in Libya und Refugees in Tunisia machen diese öffentlich und setzen sich dagegen ein, da sich auch in Tunesien insbesondere in den letzten Jahren die Situation für Geflüchtete enorm verschlechtert hat. Dazu zählt auch, dass die tunesische Küstenwache immer mehr an Pull-Backs beteiligt ist, was unter anderem an neuen Abkommen der EU und Italien mit Tunesien liegt. Neben den Patrouillen der italienischen Küstenwache, die nur in seltensten Fällen aus den nationalen Gewässern weiter raus fährt, sind es vor allem zivile Rettungsorganisationen, wie Sea-Watch, Mission-Lifeline, Sea-Eye, Proactiva Open Arms, Resqship, Salvamento Marítimo Humanitario, Ärzte ohne Grenzen oder Emergency, die in diesem Gebiet Schutzsuchende retten. Dabei haben sie mit immensen Repressionen von EU-Staaten zu kämpfen. Ihnen wird u.a. Schleppertum oder Menschenhandel vorgeworfen, weshalb sie immer wieder in Häfen festgesetzt und angeklagt werden. Nach Rettungen von Geflüchteten wird ihnen der Zugang zu Häfen häufig nicht gestattet, sodass sie noch unerträglich lange Tage auf den Schiffen ausharren müssen oder weit entfernten Häfen zugewiesen werden, um die Schiffe so lange wie möglich aus dem Such- und Rettungsgebiet entfernt zu halten.

Quellen:
Mediendienst Integration (2023): Europäische Asylpolitik und Grenzschutz. (DE)
Spiegel (2023): EU stellt Tunesien Hunderte Millionen Euro in Aussicht (DE)

Weitere Informationen und aktuelle Zahlen findest du zum Beispiel auf folgenden Seiten:

Konkrete Fälle von Kriminalisierung von Seenotrettung und Unterstützer*innen:
Kriminalisierung von Geflüchteten

Nicht nur Seenotrettungsorganisationen werden dafür kriminalisiert, dass sie Menschen in Sicherheit bringen. Auch Geflüchtete selbst sitzen auf der Anklagebank, weil sie (angeblich) ein Boot gesteuert hätten. Bei beiden ist der Anklage-Gegenstand häufig derselbe: "Beihilfe zur illegalen Einreise". Letztere haben jedoch nicht so ein großes Netzwerk und europäische Sprach- und/oder Rechtskenntnisse bzw. finanzielle Ressourcen, um auf sich aufmerksam zu machen und sich dagegen zu wehren. Diese Fälle sind also nicht so sichtbar wie die von weißen Seenotretter*innen. Außerdem ist zu betonen, dass es sich meist um Geflüchtete wie alle anderen handelt, die z.B. nur zufällig in der Nähe des Motors saßen, für das Steuern des Bootes die Kosten erlassen bekommen haben oder die zum Steuern gezwungen worden sind. Von “Beihilfe zur illegalen Einreise” kann daher nicht die Rede sein.

Quelle, Berichte und einzelne Fälle findet ihr hier:
Das Hotspot-System und die Folgen für Schutzsuchende

2015 hat die EU sogenannte Hotspots an den südlichen Außengrenzen der EU eingerichtet. Ziel war es, an diesen Hotspots alle ankommenden Asylsuchenden zu registrieren. Dafür arbeiten die nationalen Grenzbehörden sowie Mitarbeiter*innen der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex) und des Europäische Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) zusammen. Ursprünglich waren die Hotspots als temporäre Notfalllösungen gedacht, doch wie so häufig wurde dieser Krisenmodus verstetigt und normalisiert.

Hotspots in Griechenland und Italien

Auf den griechischen Inseln wurden fünf Hotspots errichtet (auf Chios, Lesbos, Samos, Leros und Kos). Geflüchtete, die in den Hotspots registriert werden, müssen zunächst einmal auf den Inseln bleiben. In dieser Zeit wird entschieden, ob sie im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei abgeschoben werden oder einen Asylantrag in Griechenland stellen können. Häufig bleiben sie auch während der Dauer ihres Asylverfahrens in den Hotspots (und teilweise bis zur Abschiebung), weswegen die Hotspots chronisch überbelegt sind. Im März 2020 erreichte die Überbelegung der Hotspots einen Höhepunkt: Obwohl die Hotspot-Zentren nur für ca. 6.000 Personen ausgelegt waren, lebten über 38.000 asylsuchende Menschen in den Lagern. Nach und nach werden die Hotspot-Zentren zu sogenannten "geschlossenen Zentren mit kontrolliertem Zugang" (Closed Controlled Access Centres (CCAC) umgebaut oder ersetzt, was vollständig von der EU finanziert wird. Auf Samos, Leros und Kos existieren sie bereits - und ähneln Hochsicherheitsgefängnissen. Bei der Versorgung mangelt es quasi an allem, sei es ärztliche Versorgung, Übersetzer*innen, Psycholog*innen, Essen, Schatten oder Auszahlungen von Leistungen. Rechtsberatung ist fast inexistent. Das liegt insbesondere daran, dass viele NGOs aufgrund staatlicher Repressionen die Inseln verlassen haben und Griechenland gleichzeitig Personal abgebaut hat. Abgelehnte Asylsuchende und anerkannte Geflüchtete, die auf den Inseln fest sitzen, erhalten gar keine Leistungen und teilweise auch kein Essen mehr.

Warum inhaftiert die EU grundlos Menschen?
Die Haft-Zentren sind Folge des EU-Türkei-Abkommens, sowie der Tatsache, dass sich mehrere EU-Mitgliedstaaten weigern, geflüchtete Menschen aufzunehmen. An Menschenrechten sind sie nicht interessiert, was sich auch an der GEAS-Reform zeigt, durch die die Lager nicht abgelöst, sondern weiter verstetigt werden. Inhaftierte Geflüchtete wehren sich jedoch gegen die Bedingungen und zeigen, was die Lager für sie bedeuten, wie eine Gruppe von Frauen auf Lesbos in dem Video “That's what we call a prison - "Kara Tepe" Migrant Camp, Lesvos (2022)”.

Aktuelle Zahlen zu Ankünften findest du bei den Dokumenten des UNHCR.
Mehr Informationen zu den Entwicklungen in Griechenland im Zeitraum Februar 2020 - Juni 2020 findest du in dieser Broschüre Stop War On Migrants (EN, GR)
Aktuellere Berichte gibt es bei Deportation Monitoring Aegean (EN), z.B. The Dystopia in form of a camp – The "Closed Controlled Access Centre of Samos" (2022)
Leseempfehlung (DE): "Der Moria Komplex - Verantwortungslosigkeit, Unzuständigkeit und Entrechtung fünf Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommen und der Einführung des Hotspot-Systems" von Maximilian Pichl (DE)
Bericht von Refugee Support Aegean: "What is happening today in the refugee structures on the Aegean islands" zur Situation auf den Ägäis-Inseln (DE)

In Italien wurden vier Hotspots errichtet (Lampedusa, Pozzallo, Taranto und Trapani), die auch regelmäßig überfüllt sind. Nach der Registrierung, die meist nur wenige Tage dauert, kommen Geflüchtete theoretisch in die Erstaufnahme, wo sie ihren Asylantrag stellen können. Kommen Personen jedoch aus einem "sicheren Drittstaat", werden sie mit der Aufforderung, das Land innerhalb von 7 Tagen zu verlassen, praktisch auf die Straße gesetzt. Außerdem gibt es Haftzentren (CPR), in denen Menschen in Abschiebehaft kommen. Da das Aufnahmesystem unzureichend war und ist, wurden 2015 außerordentliche Aufnahmezentren (CAS) eingeführt, die als Notlösung zur ersten Aufnahme gedacht waren und bis heute verstetigt wurden. Diese können von privaten (teilweise profitorientierten) Trägern geführt werden und variieren daher stark. In die etwas besseren Zentren der zweiten Aufnahme (SAI) kommen nur teilweise Menschen mit positivem Asylbescheid und unbegleitete minderjährige Geflüchtete.

2-wöchentliche Kurzinfo “Scirocco" zu Italien (DE, EN)

Quellen:
Mediendienst Integration (2020): Europäische Asylpolitik und Grenzschutz.
UNHCR (2021): Aegean Islands Weekly Snapshot 19.-25. July 2021.
Colombo, Fabio (2022): Il sistema di accoglienza dei migranti in Italia, spiegato per bene (IT)
Sachverständigenrat für Integration und Migration (2021): Die Hotspots auf den griechischen Inseln: Was die EU aus ihren strukturellen Problemen für die gemeinsame Asylpolitik lernen sollte (DE)
Pro Asyl (2023): Griechische Verhältnisse – bald überall in Europa? (DE)
Die Balkanregion

  • Jedes Jahr versuchen zehntausende Geflüchtete über eine der Landesgrenzen des Balkans auf der Suche nach Schutz nach Westeuropa zu gelangen. Auch nach der zunehmenden Schließung der europäischen Außengrenzen, insbesondere der offiziellen Schließung der sogenannten Balkanroute im März 2016, sind die Länder der Balkanregion noch immer Transitländer (d.h. Durchreiseländer) für viele Geflüchtete.
  • Im Juni 2023 wurden fast 18.000 schutzsuchende Menschen vom UNHCR in der Balkanregion registriert, 92% davon in Serbien und Bosnien und Herzegowina.
  • Neben diesen Haupt-Transitstaaten sind auch Kroatien, Montenegro, Nord Mazedonien, Kosovo, Albanien und Rumänien Transitländer der Balkanregion. Die Lebensbedingungen für schutzsuchende Menschen sind je nach Land und Camp unterschiedlich. Zudem befindet sich ein Teil der geflüchteten Menschen in der Region nicht in offiziellen Camps oder Unterkünften.
  • Seit den Grenzschließungen sind Grenzübertritte in der Balkanregion immer gefährlicher geworden. Vermehrt wird von gewaltvollen und illegalen Push-Backs (d.h. Menschen werden in der Nähe der Grenze oder aus dem Landesinneren zurückgeschickt, ohne einen Antrag auf Asyl stellen zu können), Misshandlungen und rassistischen Übergriffen in der Region berichtet.
  • Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl kritisieren seit langem, dass beispielsweise die kroatische Grenzpolizei Schutzsuchende systematisch an der Flucht in die EU hindert, ihnen das Recht auf Asyl verweigert und gewaltvoll nach Bosnien und Herzegowina zurückdrängt. Viele flüchtende Menschen riskieren aufgrund von Alternativlosigkeit auf diesen gefährlichen Routen ihr Leben.

Beispiel Serbien

  • In Serbien befinden sich laut UNHCR aktuell 5,247 Geflüchtete und Asylsuchende (Stand Juni 2023).
  • Schätzungsweise 400-500 Geflüchtete halten sich in Nordserbien außerhalb offizieller Unterkünfte auf (Stand Juli 2020). Dabei ist in der Realität von einer sehr viel höheren Zahl auszugehen, da sich besonders in den Sommermonaten viele Geflüchtete nahe der Grenzen außerhalb der Camps aufhalten. Diese Zahlen sind niedriger als in vielen anderen Ländern, was nicht heißt, dass dort wenig Menschen sind, sondern auf eine geringe Abdeckung durch Medien und ein geringeres Bewusstsein hindeutet.
  • Laut offizieller Angaben sind innerhalb Serbiens im Jahr 2019 20 Menschen bei dem Versuch die Grenze zu überqueren, umgekommen. Expert*innen schätzen die Dunkelziffer allerdings als sehr viel höher ein. Das liegt daran, dass Überlebende von gescheiterten Versuchen, eine der Grenzen zu überqueren, meist nicht zur Polizei gehen.
  • Laut der Ungarischen Polizei wurden 2022 jeden Tag im Durchschnitt ca. 350 Menschen an der Einreise nach Ungarn gehindert. Die Push-Backs sind häufig mit Gewalt und Diebstahl verbunden.

Hier kannst du dich weiter informieren:



Quellen:
Stojić Mitrović, M.; Ahmetašević, N.; Beznec, B. und Kurnik, A. (2020): The Dark Sides of Europeanisation. Serbia, Bosnia and Herzegovina and the European Border Regime (EN)
ProAsyl (2020): Türsteher Kroatien: Brutale Menschenrechtsverletzungen im Namen Europas (DE)
MVI, Collective Aid und Construct Solidarity: Bericht Nordserbien Dezember 2022/Januar 2023 (EN)
UNHCR: South Eastern Europe. Operational Portal. Refugee Situations.
UNHCR: Serbia Update May-June 2023
 
 

Politische und soziale Situation

Soziale Situation von Geflüchteten und die Lebensbedingungen in den Camps

Durch die Bemühungen der EU, Migrationsbewegungen nach Europa zu reduzieren und positive Asylbescheide auf einem möglichst niedrigen Niveau zu halten, befindet sich ein Großteil der Geflüchteten in Europa in einer nicht nur sehr prekären, sondern auch äußerst aussichtslosen Situation.

Von der lokalen Bevölkerung schlägt ihnen zunehmend Unmut oder gar rassistische Gewalt entgegen. Viele Geflüchtete befinden sich zudem oft in einer Warteschleife von behördlichen Termine, Anträgen und Bescheiden, die sich meist über mehrere Jahre hinzieht. Und in nicht wenigen Fällen erwartet sie am Ende dieses zehrenden Prozesses die Abschiebung. Da der Prozess des Asylantrags derart mühsam und langwierig ist, müssen die Asylsuchenden zum Teil mehrere Jahre in den ihnen zugewiesenen Camps verharren. Dabei variieren die Lebensbedingungen der Geflüchteten nicht nur von Land zu Land, sondern sogar von Camp zu Camp.

Folgende Aspekte können Einfluss auf die Lebensbedingungen in den Camps haben:

Unterbringung und Sanitäre Anlagen

Die Formen der Unterbringungen reichen von größeren Hallen, die lediglich durch Vorhänge abgetrennt werden, über Zelte und Container bis hin zu Wohnblöcken und dezentraler Unterbringung. Bei den sanitären Anlagen sind Aspekte wie Anzahl, Ausstattung, und Instandhaltung entscheidende Faktoren, die nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Gesundheit der Bewohner*innen eines Camps beeinflussen können. Auch die Möglichkeit der Privatsphäre sowie die Lage der sanitären Anlagen entscheiden über die Vulnerabilität und das Sicherheitsgefühl - insbesondere von Mädchen und Frauen. Besonders die Lebenssituation in Camps hat das Einhalten von Schutzmaßnahmen wie Abstandsregelung oder physischer Isolation während der COVID-19-Pandemie unmöglich gemacht, weshalb schutzsuchende Menschen einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt waren.
Finanzielle Unterstützung

Die finanzielle Versorgung von Geflüchteten ist in jedem Land anders geregelt. In Griechenland beispielsweise erhalten die Geflüchteten, die in einem Camp registriert sind, eine sogenannte Cash Card. Mit dieser können sie monatlich einen bestimmten Betrag abheben, der sich anhand der Größe ihrer Familie bemisst. Dieser Betrag ist jedoch so knapp bemessen, dass es für den nötigsten Grundbedarf gerade ausreicht, die Menschen aber für weitere Anschaffungen (Kleidung, Haushaltsartikel usw.) auf die Unterstützung durch gemeinnützige Organisationen und Projekte angewiesen sind.
Versorgung mit Lebensmitteln

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln kann von Camp zu Camp sehr unterschiedlich ausfallen. Während die Menschen in einigen Camps die Möglichkeit haben, selbst zu kochen, wird dies in anderen Camps untersagt und sie werden täglich mit abgepackten Mahlzeiten versorgt, die meist wenig Nährstoffe enthalten. In einigen Fällen wird die Lebensmittelversorgung auch von humanitären Organisationen oder Projekten übernommen.
Lage des Camps und Bewegungsfreiheit

Über die Bewegungsfreiheit bzw. die Möglichkeit, sich außerhalb des Camps aufzuhalten, ist die Lage des Camps sehr entscheidend. Handelt es sich beispielsweise um ein Camp, welches weit entfernt von einer nächsten größeren Stadt angesiedelt ist, müssen seine Bewohner*innen meist hohe Summen für die öffentlichen Verkehrsmittel aufbringen. Asylsuchende sind auf diese Verkehrsanbindungen angewiesen, da sie zu zahlreichen Terminen in verschiedenen Behörden erscheinen müssen. Aber auch, um die unterstützenden Angebote von Organisationen wahrnehmen zu können, müssen viele Geflüchtete mehrere Stunden Fahrt aus ihren abgelegenen Camps auf sich nehmen. Die Lage der Camps kann somit auch einen enormen Einfluss auf die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe haben. Verhängte Ausgangssperren während der COVID-19-Pandemie schränkten die schon stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit noch weiter ein. Je nach Art des Camps kann es auch sein, dass gar keine Bewegungsfreiheit vorhanden ist und Menschen in den Camps inhaftiert sind.
Zugang von Nichtregierungsorganisationen (NROs) und Projekten

Ob und inwiefern externe Organisationen und Projekte Zugang zu Camps haben, kann die Art des Camps, die Lebensbedingungen seiner Bewohner*innen und die Möglichkeiten der Aktivität und Teilhabe stark beeinflussen. In vielen Fällen wurden die Zugänge inzwischen stark eingeschränkt. Ist ein Camp vollständig abgeschottet von jeglichem externen Zugang, so geraten auch nur wenige bis keine Informationen über die Bedingungen im Camp an die Öffentlichkeit. Dabei sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass nicht jedes Hilfsprojekt eine Verbesserung der Lebensbedingungen im Camp verspricht. So waren einige Projekte in der Vergangenheit zwar gut gemeint, allerdings waren sie nicht auf Nachhaltigkeit oder Langfristigkeit ausgelegt, brachen wieder ab oder gingen unüberlegt vor und weckten so falsche Hoffnungen. Gut gemeint kann auch Enttäuschung und Schaden erzeugen.
Konfliktpotenzial

Die Zusammensetzung der Bewohner*innen eines Camps kann über die allgemeine Stimmung und das Konfliktpotenzial entscheiden. Es kann beispielsweise vorkommen, dass Menschen ethnischer, religiöser oder nationaler Gruppen, die im Herkunftsland gegeneinander Krieg führen, plötzlich in Nachbarschaft leben müssen. Dabei kann es immer wieder zu (gewaltvollen) Konflikten kommen. Die meisten Geflüchteten können ihre Camps jedoch nicht nach eigenem Ermessen verlassen oder wechseln. In Griechenland beispielsweise verlieren sie ihren Anspruch auf die Cash Card, sobald sie das Camp langfristig verlassen. Kommt es also zu Konflikten oder gewaltvollen Auseinandersetzungen, stehen sie vor der Wahl, sich dem dort herrschenden Risiko weiterhin auszusetzen oder ihren Anspruch auf die Cash Card zu verlieren.

Hierbei handelt es sich nur um eine Auswahl an Aspekten, die die Lebensbedingungen der schutzsuchenden Menschen in Camps beeinflussen. Es wird schnell deutlich, dass es nicht das “eine” Camp gibt. Außerdem haben viele Geflüchtete aus unterschiedlichen Gründen keinen Zugang zu einem Camp und leben auf der Straße oder in verlassenen Gebäuden. Diese Menschen leben in prekärsten Verhältnissen. Mit Ausnahme einiger Projekte erhalten sie keinerlei Unterstützung. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen sind sie einem höheren Risiko ausgesetzt, zu erkranken, und sind in vielen Fällen von willkürlicher Polizeigewalt getroffen.

Setze dich deshalb vor Ort mit dem Thema auseinander: Ist das Projekt für ein bestimmtes Camp zuständig, versorgt es mehrere Camps in der Region oder handelt es sich um ein Angebot, welches von den Geflüchteten an einem zentralen Ort selbst aufgesucht wird? Um was für Camps und Zusammensetzungen von Menschen handelt es sich? Welche Konfliktpotenziale sind möglich und müssen bei der Arbeit bedacht werden?


 

Politische und Soziale Situation in Aufnahmeländern

Als internationale*r Freiwillige*r solltest du dich mit den politischen und sozialen Umständen des Landes, in dem du arbeitest, auseinandersetzen. Ein Gespür für das Land und die lokale Bevölkerung kann dir dabei helfen, dich zurechtzufinden und deine Arbeit in den regionalen Kontext einzuordnen. Versuche deshalb, dich vorab ein wenig über das Land, die Region, die Politik und die Gesellschaft zu informieren.

Wichtige Fragen können sein:

  • Wie sieht die politische und soziale Situation des Landes aus, in dem du arbeiten möchtest?
  • Wer ist momentan in der Regierung?
  • Durch welche politischen und sozialen Konflikte zeichnet sich das Land/die Region gerade aus?
  • Wie gestalten sich öffentliche Debatten um die Themen Migration, Flucht und solidarische Unterstützungsarbeit?



Beispiel Griechenland

  • EU-Mitgliedsstaaten wie Griechenland leiden immer noch unter den Folgen der Finanz- und Eurokrise im Jahr 2007 bzw. 2010 und den auferlegten Sparmaßnahmen. Hinzu kommen Einbußen im Tourismusbereich durch eine relativ hohe Anzahl ankommender Schutzsuchender in den Jahren 2015-2016 und auch der Corona-Pandemie.
  • Besonders, wenn wir aus privilegierten EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland kommen, sollten wir die Lebensbedingungen und sozialen Gegebenheiten vor Ort sowie unsere eigene Position als internationale Freiwillige in diesem Kontext reflektieren.
  • Als Vergleich: Griechenland hat eine Arbeitslosenquote von ca. 11,2% (Stand April 2023; Quelle Statista) und Jugendarbeitslosenquote von 27,4% (ebd.). In Deutschland beträgt die Arbeitslosenquote nur 3,9% (ebd.) und die Jugendarbeitslosigkeit 5,4%. In Griechenland ist außerdem die staatliche Unterstützung für Bedürftige nicht in gleicher Art gewährleistet wie in Deutschland und auch viele arbeitslose Griech*innen sind auf die Unterstützung durch gemeinnützige Organisationen und ihre Familien angewiesen.



Quellen:
Statista (2023): Europäische Union. Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2023
Statista (2023): Europäische Union. Arbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten im April 2023

 
 

Bleib informiert!

Wo und wie kannst du auf dem Laufenden bleiben?


In den (Mainstream-) Medien wird immer seltener über die Situation von schutzsuchenden Menschen an den europäischen Außengrenzen berichtet. Deshalb haben wir hier einige Empfehlungen, wo du dich informieren kannst:

Regelmäßige bis tägliche Updates über Politiken, Praktiken und Ereignisse an den Grenzen Europas:


Informationen für Migrant*innen und Menschen auf der Flucht:


Dokumentation von Push-Backs und Grenzgewalt:


Weitere interessante Organisationen und Links:

 

 
 
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Wir freuen uns sehr über Rückmeldungen und hilfreiche Hinweise von Euch! Schreibt uns einfach eine Email: kontakt@brueckenwind.org

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